Heinrich Vogeler war vieles in seinem Leben, was er ganz gewiss nicht war: ein Träumer.
„Heinrich Vogeler – Künstler, Träumer, Visionär“, so der Titel der Monografie zur Ausstellung in Worpswede 2012, „Heinrich Vogeler – Aus dem Leben eines Träumers“ lautet der Filmtitel von 2022, „Träumer und Sozialist“ schreibt nicht nur die Zeit und „Zum Geburtstag eines Träumers“ der Freitag. „Träumer“ – ein Begriff, der schon lange immer etwas herablassend für Menschen gebraucht wird, die sich den gegebenen Verhältnissen im realen Kapitalismus nicht anpassen mögen. So einer war Heinrich Vogeler tatsächlich. „Geträumt“ jedoch hat er kaum von einem anderen, besseren Leben: er hat versucht es herzustellen. Heinrich Vogeler war ein Praktiker.
Heinrich Vogeler war tatsächlich vieles in seinem Leben, er war Maler, Buchgestalter, Grafiker, Kunstgewerbler, Architekt. Er war Agitator, Politiker und Pädagoge, und er war Autor einer Vielzahl von Schriften, über alle Themen, die ihn bewegten. In ihnen reflektierte Vogeler seine Praxis und auch diese Broschüren zielten auf unmittelbaren Gebrauch, auf Diskussionen, auf Umsetzung.
Heinrich Vogeler bewegte sich dabei im Rahmen der Auseinandersetzungen seiner Zeit: die Fragen, die er sich stelle, bewegte Viele. Heinrich Vogeler aber fand in allen Bereichen seine ganz eigenständigen Lösungsansätze. Das macht ihn auch heute noch so interessant und spannend, denn alle die Fragen, die Heinrich Vogeler sich stellte, sind nach wie vor hochaktuell.
Es ging ihm um die Frage, was als Wahrheit erkannt werden kann und was für Folgen das hat für das persönliche Leben. Sobald Heinrich Vogeler eine Sache als richtig erkannte, packte er sie an, unter Einsatz aller seiner Zeit, seiner Kraft und seines gesamten Besitzes. Er scheute keine Auseinandersetzungen und setzte dabei auch sein eigenes Leben aufs Spiel.
Ganz aktuell ist seine Haltung zum Militarismus, wobei er die Frage von Krieg und Frieden mit dem bedingungslosen Einsatz für den Frieden beantwortete unter Bedingungen in denen er damit rechnete, dafür erschossen zu werden.
Es ging ihm um das Spannungsverhältnis zwischen Kunst und Gesellschaft und inwiefern Kunst dazu beitragen könne, eine bessere Welt herzustellen. L’art pour l’art, wie das in der bürgerlichen Kunstszene üblich ist, bzw. l’art pour Dekoration und Geldanlage lehnte Vogeler strikt ab. Auch schon zu seiner Jugendstilzeit wollte er Einfluss nehmen auf die Veränderung der Gesellschaft durch seine Kunst, entsprechend der Jugendstilidee einer Kunst, die “zu gebrauchen” wäre, und angetrieben von dem Gedanken, um sich herum ein Stück sowohl ästhetisch guter als auch gerechter Wirklichkeit zu gestalten. Später ging es ihm analog zu der Zerschlagung der kaiserlichen und auch der kapitalistischen Ordnung um die Zerschlagung der bürgerlichen Kunst, um die Entwicklung einer Kunst, die die Entfaltung des Menschen innerhalb einer auf den Kommunismus zielenden Gesellschaftsordnung unterstützen könnte.
Es ging um die Frage von Produktion und Produktionsverhältnissen und wie diese vielleicht entwickelt werden könnten inmitten einer kapitalistischen Landwirtschaft. Eine Frage, die später die „Alternativbewegung“ mitsamt den Kollektivbetrieben erneut umtreiben wird. Es ging um die Frage der Bildung des Menschen und einer Erziehung zu eigenständig denkenden und zu gegenseitiger Hilfe fähigen Menschen. Diese Frage des Bildungssystems ist angesichts der grauslichen Verhältnisse in den real existierenden Schulen hochaktuell. Sowohl die Konzeption vom polytechnischen Unterricht als auch die Erlebnispädagogik und weiter Formen von Reformschulen können von den Überlegungen Heinrich Vogelers dazu profitieren.
Zusammenstellung zu seinem Leben
Jugend
Heinrich Vogeler kam als Kind des Eisenwarengroßhändlers Carl Eduard Vogeler und seiner Frau Marie Luise am 12. Dezember 1872 in Bremen zur Welt. Er sollte eine kaufmännische Lehre beginnen, um die Firma zu übernehmen; eine Krankheit hinderte ihn daran. Auf seinen Wunsch hin und finanziert vom Vater konnte er 1890 im Alter von 18 Jahren ein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie beginnen. Die konservative akademische Ausbildung langweilte ihn, er unterbrach das Studium für Reisen nach Belgien, Frankreich und Italien und entwickelte einen eigenen Stil, schloss aber auch das Studium noch ab.
Er freundete sich mit Fritz Overbeck an, der sich nach dem Verlassen der Akademie in Worpswede niedergelassen hatte. 1895 kaufte Vogeler sich vom Erbe seines unerwartet gestorbenen Vaters ein Haus in Worpswede und schloss sich der dort schon existierenden Gruppe von Künstler_innen an, zu der neben Overbeck auch Clara Westhoff, Hans am Ende und Otto Modersohn gehörten; später kam Paula Becker dazu. Die Malergemeinschaft in Worpswede verband ein gemeinsamer Ansatz in der Kunst, sich um ein neues Naturverständnis zu bemühen, in der freien Natur zu arbeiten und eine schlichte Formgebung zu entwickeln. Das war damals kein ungewöhnliches Unterfangen von jungen Künstlern. Schon seit dem Ende des 18. Jahrhunderts hatten sich Gruppen von Künstlern zusammengeschlossen, um gemeinsam zu leben und zu arbeiten. Ähnliche Künstlerkolonien entstanden in ganz Europa.
In dieser Zeit orientierte sich Vogeler an der englischen Malergruppe der Präraffaeliten, welche italienische Maler des 15. Jahrhunderts wie Botticelli zum Vorbild hatten, vor allem aber am Jugendstil, der damals aufkommenden Gegenbewegung junger Künstler_innen und Kunsthandwerker_innen zur als veraltet empfundenen Kunstszene.
In diesem Stil gestaltete er auch sein Haus in Worpswede. Kurz nach 1900 wurde dieses Haus, der Barkenhoff, wie das Haus aufgrund eines angrenzenden Birkenwäldchens genannt wurde, zum Treffpunkt einer neuen Szene von Künstler_innen und Intellektuellen. Auf dem Barkenhoff gingen viele Künstler_innen dieser Zeit ein und aus, unter ihnen Charlotte Bara, Gerhard Hauptmann, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke oder Carl Weidemeyer.
1901 heiratete er Martha Schröder, ein Mädchen aus Worpswede. Er malte und zeichnete sie oft in verschiedenen Szenen. Sehr früh schon entstand das Bild »Martha von Hembarg«. 1898 malte er das Bild »Frühling«, welches Martha im locker fallenden Reformkleid zeigt. Durch die Nähe zur jungen Martha erlebte Heinrich Vogeler ab 1894 Worpswede und seine Umgebung unmittelbarer, lernte das bäuerliche Leben kennen und entfernte sich von seinen zunächst historisierenden Bildinhalten. Mit Martha hatte Vogeler drei Töchter.
Ihren ersten großen Erfolg hatten die Worpsweder Künstler in Bremen mit einer Gruppenausstellung. Danach konnten sie sich an einer großen internationalen Ausstellung im Münchener Glaspalast beteiligen, die sie überall bekannt machte.
Ludwig Roselius
Ein wichtiger Mäzen Vogelers war Ludwig Roselius. den Kaffeehändler, Gründer der Bremer Firma Kaffee Hag und Kunstmäzen. Ludwig Roselius war als Kaffeehändler nicht nur Profiteur des Kolonialsystems, er war auch direkt beteiligt am ersten Weltkrieg, um die Gebiete im Osten, vor allem die Ukraine, für Deutschland zu erschließen. Mit dem reaktionären Putschisten Wolfgang Kapp und Großadmiral Alfred von Tirpitz gründete er 1917 die „Deutsche Vaterlandspartei“, die einen „nationalen Sozialismus“ propagierte und mit der er eine anti-kommunistische Massenbewegung aufbauen wollte.
Nach dem Krieg wurde er ein Bewunderer Adolf Hitlers, den er persönlich getroffen hatte und wurde Förderer der SS. Die Böttcherstraße in der Innenstadt ließ er 1926 im „Willen, eine neue und größere Zeit für Deutschland zu erwecken“ umgestalten, mit „germanischer Kunst“, gestaltet vor allem in Backstein durch den Bildhauer Bernhard Hoetger. Der sympathisierte wie Ludwig Roselius mit dem Faschismus und wurde Parteimitglied. Nebenbei war das Ganze eine Werbeaktion für die Kaffeefirma.
Das führte in der Folge zu Auseinandersetzungen mit den Faschisten, die das von ihm als völkisch-germanisch-nationale konzipierte Gesamtkunstwerk ablehnten. In der Zeitung „Das Schwarze Korps“ der SS wurde die Straße und ihre “entartete” Gestaltung angegriffen. Das Museum für Paula Modersohn-Becker musste geschlossen werden, Roselius handelte einen Kompromiss aus, unter anderem indem er den „Lichtbringer“ anbringen ließ. An den Bürgermeister Bremens schrieb er: „Die dort jetzt angebrachte große Bronze stellt den Sieg unseres Führers über die Mächte der Finsternis dar“. Dem Nationalsozialismus blieb Roselius bis zu seinem Tod 1943 verbunden.
Trotzdem hielt er an der Freundschaft zu Vogeler lange fest und förderte ihn und Paula Modersohn-Becker, die von den Nazis als “entartet” verfemt wurden.
Jugendstil
Der Jugendstiel war eine in ganz Europa entstehende Richtung in der Kunst, die sich als Gegenbewegung zum alten akademischen Malstil formierte und nicht nur die Malerei, sondern auch Architektur und Kunsthandwerk umfasste. William Morris und die „Arts and Craft“ Bewegung in England waren Vorgänger bei dem Versuch, Kunst nicht nur für die Kunst an sich, sondern zum Gebrauch zu gestalten. Das Bürgertum in dieser Zeit sah sich konfrontiert mit einer sich rasant verändernde Gesellschaft, die Industrialisierung schritt voran; die Bourgeoise suchte nach neuer Orientierung. Dabei war der Jugendstil einerseits als moderne Kunstrichtung unter Einbezug auch neuer Materialien als auch gleichzeitig als Versuch die Natur mit der Gesellschaft zu versöhnen anziehend. Heinrich Vogeler mit seinen Themen aus der Natur und von Märchengestalten bediente die Sehnsucht nach Romantik und Vergangenheit sowie nach originaler Schönheit in einer von mehr und mehr industriell gefertigten und als hässlich empfundenen Massenware geprägten Realität.
Heinrich Vogeler war um die Jahrhundertwende einer der bekanntesten jungen deutschen Künstler. In dieser Zeit trieb ihn der Grundgedanke an, um sich herum ein Stück sowohl ästhetisch guter als auch gerechter Wirklichkeit zu gestalten. Heinrich Vogeler wollte schon zu dieser Zeit Einfluss nehmen auf die Veränderung der Gesellschaft durch seine Kunst.
Nach den Prinzipien des Jugendstils, der alle Lebensbereiche umschließen sollte, entwarf er Möbel, Bestecke und Gläser, zuerst für den Barkenhoff, den er ganz nach seinen eigenen Vorstellungen herrichtete, einschließlich des selbst entworfenen Giebels und der großen Freitreppe zum Garten hin. Der Barkenhoff wurde nach und nach so etwas wie ein bewohnbares Gesamtkunstwerk. Vogeler zeichnete die architektonischen Elemente, wie er sich haben wollte, einschließlich des Gartens. Auch die Möbel und das Geschirr entstanden nach seinen Entwürfen.
Als Architekt plante er unter anderem das Bahnhofsgebäude von Worpswede. Die Internationale Kunstausstellung in Dresden zeigte 1897 seine Gemälde und Graphiken, von ihm gestaltete Dinge wie Silberbesteck wurden in das Programm des Pariser Kunstgewerbemuseums “Maison Moderne” übernommen.
Allerdings gab es durchaus auch Kritik. Im Berliner Kunstsalon präsentiert er der Öffentlichkeit 1901 ein “Damenzimmer”; das Feuilleton ist geteilter Meinung: er wurde gelobt aber es war auch zu hören, übersüßliche Himbeerromantik wäre da zu sehen.
Sein Werk war nicht unumstritten als er von den jungen Dichtern Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder angefragt wurde, bei der von ihnen 1899 in München gegründeten neuen Zeitschrift “Die Insel” als Grafiker mitzuwirken. Heinrich Vogeler willigte sofort ein und machte sich auf nach München, wo er für die von 1899 bis 1902 erscheinenden Monatsschrift zum hauptsächlichen Gestalter wurde, vom Titelblatt bis zum Seitenschmuck. 1899 erschien der kleine Band “Dir” mit von ihm verfassten Gedichten im “Insel” Verlag.
Er konnte vielfältige weitere Kontakte knüpfen zu den damals angesagten Künstlerkreisen in München, unter anderen lernte er auf einer Reise nach Italien den Dichter Rilke kennen und freundete sich mit ihm an. Rilke war ab da ein häufiger Gast auf dem Barkenhoff. Viele seiner Gedichtbände wurden von Vogeler illustriert. Er machte Vogeler auch bekannt mit russischer Literatur.
1904 erhielt Vogeler den Auftrag, für den Bremer Senat nach der Empfehlung des Kunsthallenleiters Gustav Pauli die so genannte Güldenkammer im Bremer Rathaus zu gestalten, die noch heute als Attraktion gilt. Ausschweifend dekorierte er das Zimmer mit einer in rotem und goldenem Ledergehaltenen Tapete und mit einer Fülle von Vogel- und Blumenmotiven auf den Türverkleidungen, Türgriffen, Leuchtern, dem Kamingitter und Teppichen.
Diese Arbeit machte ihn so bekannt, dass seine kunstgewerblichen Arbeiten ihm mehr Erfolg als seine Malerei brachten. Sie wurden im von seinem jüngeren Bruder Franz gegründeten Kunst- und Kunstgewerbehaus Worpswede GmbH vertrieben. Aber auch durch seine Arbeiten in der Gestaltung und seine grafischen Beiträge für Bücher wurde er im Bürgertum geschätzt.
Über sein künstlerisches Frühwerk als Romantiker und Jugendstilmaler urteilte Vogeler später in seiner Autobiographie: „Meine graphischen Arbeiten aus dieser Zeit drückten wohl die Horizontlosigkeit aus. Unbewusst einstand eine rein formale wirklichkeitsfremde Phantasiekunst ohne Inhalt. Sie war eine romantische Flucht aus der Wirklichkeit, und daher war sie auch wohl für den bürgerlichen Menschen eine erwünschte Ablenkung von den drohenden sozialen Fragen der Gegenwart.“ [Heinrich Vogeler: Werden. S. 49.]
Architektur für Arbeiter_innen
Weiterhin unternahm er viele Reisen, unter anderem wegen eines Augenleidens 1906 auf Anraten seines Arztes zur Erholung eine Seereise nach Ceylon. Die Methoden, die die Briten dort anwandten, um ihre Kolonialherrschaft aufrechtzuerhalten, widerten ihn an.
Insbesondere die Lektüre der Werke des russischen Schriftstellers Maxim Gorki weckten Vogelers Bereitschaft, sich für die Belange der Arbeiterklasse einzusetzen. In seinen Erinnerungen schreibt er: „Um diese Zeit, … , trat zum ersten Mal die aufrüttelnde Kunst Maxim Gorkis in mein Leben … Erst mit den Werken Gorkis lernte ich die Welt der ausgebeuteten, niedergehaltenen Massen kennen, jene Gefühlswelt, aus deren Spannungen die Kräfte wuchsen, die auf eine grundsätzliche Veränderung der menschlichen Verhältnisse drängen, zur revolutionären Auseinandersetzung mit der bürgerlichen, der kapitalistischen Welt, zur Auslösung des Klassenkampfes. Alle Zweifel, alle Erkenntnisse, alle Fluchtversuche, aller Gestaltungswille und viele, viele Irrwege meines Lebens begann ich vom neuen Standpunkt aus zu sehen.“
Mehr und mehr interessierten ihn die sozialen Verhältnisse, in denen die Arbeiter_innen leben mussten. Während einer Reise nach Lodz im Jahr 1907 lernte er das soziale Engagement einer Fabrikantenfrau kennen. Er entwarf in der Folge Arbeiterhäuser und eine Gartenstadtsiedlung für Arbeiterfamilien. All das tat er nicht isoliert, überall suchte und fand er Gleichgesinnte und er organisierte sich mit ihnen: Vogeler gehörte zu den Gründungsmitgliedern des Deutschen Werkbundes und der deutschen Gartenstadt-Gesellschaft.
Sie alle gehörten einer Strömung von bürgerlichen sozialreformerischen Kreisen an, die sich in ganz Europa herausbildeten. Sie gingen allesamt zurück auf die englische Arts-and-Crafts-Bewegung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, die sich darum drehte, die Verbindung zwischen Kunst, Gesellschaft und Arbeit wiederherzustellen, die sie durch die industrielle Massenproduktion zerschnitten sahen. Das Handwerk spielte mit seinem bewussten Umgang mit (schönem) Material eine besondere Rolle. Gleichzeitig kritisierten sie die ihrer Ansicht nach ebenfalls von der Industrialisierung herrührende Verelendung des Proletariats und suchten Möglichkeiten die Lebensverhältnisse zu verbessern.
Im Jahr 1907 stellte er den Maler und Architekten Walter Schulze als Mitarbeiter ein. Im selben Jahr war Vogeler Mitbegründer des Deutschen Werkbundes. Ein Jahr später gründete er mit seinem Bruder Franz die Worpsweder Werkstätte in Tarmstedt, einen Tischlerbetrieb zur Herstellung von preiswerten und trotzdem guten Serienmöbeln, die für Arbeiter- und Bauernfamilien erschwinglich sein sollten.
Als Stadtplaner setzte er sich für bezahlbaren Wohnungsbau ein. Er befasste sich intensiv mit dazu existierenden Entwürfen und Theorien, reiste 1909 mit einer Studiengruppe der Deutschen Gartenstadt-Gesellschaft nach England und besichtigte dort die als vorbildlich geltende Arbeitersiedlung Port Sunlight in Liverpool, lernte aber in Glasgow und Manchester auch die Elendsviertel kennen. Er schrieb: “So etwas Erschütterndes hatte ich noch nicht gesehen. Verkommene Mietskasernen, eiserne Treppen von außen hinauf zu den Etagen, deren offene Gänge zu den einzelnen Räumen führten. Dort gab es keine Möbel. Menschen mit bösem, vertiertem Ausdruck lagerten auf schmutzigen Lumpen, die auf dem Zementfußboden herumlagen.”‘ [Vogeler, Heinrich: Erinnerungen. Hrsg. von Weinart, Erich. Berlin 1952, S. 167.]
Die Realisierung des Entwurfs der Gartenstadtsiedlung für Arbeiterfamilien, geplant für die Mitarbeiter_innen einer Möbelfabrik im Bremer Raum, scheiterte jedoch. Er fand keine Geldgeber, die bereit waren die Projekte ohne Aussicht auf Rendite zu finanzieren. Alles was es gab war der Rat, doch lieber wieder schöne Bilder zu malen.
Im Jahr 1910 wurden seine innenarchitektonischen Arbeiten auf der Brüsseler Weltausstellung ausgezeichnet. Trotzdem wurde er zunehmend unzufrieden mit seinem Leben; dazu kam, dass es auch in seiner Ehe kriselte. Seit langem war Martha mit Ludwig Bäumer, einem Bremer Kommunisten, eng befreundet. Ab 1909 lebte dieser als ihr Geliebter mit auf dem Barkenhoff. Die Beziehung festigte sich, seit 1910 war er ihr neuer Lebensgefährte. Vogeler zog aus dem Haupthaus in das so genannte Bienenhaus um.
Zugleich verebbte in dieser Zeit das öffentliche Interesse am Jugendstil. Auf zahlreichen Studienreisen suchte Vogeler deshalb nach neuer künstlerischer Orientierung.
Paula Modersohn-Becker
Die 1876 geborene Paula Becker hatte schon früh Interesse an Kunst. In dieser Zeit war es für Frauen noch unmöglich eine Ausbildung an einer Akademie zu machen, es gab höchstens Privatschulen oder Privatunterricht, den sie dann auch kontinuierlich nahm. 1897 war sie das erste Mal für ein paar Wochen in Worpswede, da sie sich für die dort entstehende Kunst interessierte. Künstlerkolonien waren Zeit fast die einzigen Möglichkeiten für junge Künstlerinnen, sich außerhalb der engen gesellschaftlichen Konventionen zu bewegen. Nach mehreren Besuchen dort begann sie Malunterricht bei Mackensen zu nehmen so wie auch ihre Freundin, die Bildhauerin und Malerin Clara Westhoff. Clara Westhoff heiratete Rainer Maria Rilke, mit dem sie in das Nachbardorf von Worpswede zog in ein Haus, das Heinrich Vogeler für das Ehepaar ausgestattet hatte. 1902 modellierte sie eine Büste von Heinrich Vogeler.
1901 heirateten Otto Modersohn und Paula Becker. Ungewöhnlich für diese Zeit war, dass sie ihren eigenen Nachnamen beibehielt.
Heinrich Vogeler wurde einer ihrer engsten Freunde, er schätzte und förderte sie, was nicht selbstverständlich war, wurden doch die Künstlerinnen allgemein abfällig als “Malweiber” bezeichnet.
Sie unternahm weiterhin Reisen zu Studienzwecken, mehrmals nach Paris.
Zu der Zeit von Vogelers Krise hatte sie wieder eine Reise nach Paris unternommen und kam von dort mit Anregungen für eine neue Art zu malen zurück; sie wurde eine der Wegbereiterinnen der Moderne in Deutschland.
1907 brachte Paula Modersohn-Becker nach einer schwierigen Geburt ihre Tochter zur Welt. Kurz darauf klagte sie über Schmerzen in ihren Beinen, die falsch diagnostiziert wurden und in deren Folge sie im Alter von 31 Jahren an einer Embolie verstarb. Die meiste Arbeit, die sie in Abgeschiedenheit verrichtete, wurde ihren engsten Freunden erst bei der Besichtigung ihres Nachlasses bekannt. Paula Modersohn-Becker hatte während ihres zehnjährigen Schaffens etwa 700 Gemälde und mehr als 1000 Handzeichnungen angefertigt, davon aber nur etwa fünf Bilder verkauft, unter anderem an Vogeler und Rilke. Die entscheidende Bedeutung ihres Gesamtwerkes erkannte auch Heinrich Vogeler erst nach ihrem Tod. Er bemühte sich, das Schaffen der Künstlerin zusammen mit Otto Modersohn zu dokumentieren und zu katalogisieren. Er konnte auch erreichen, dass das Werk von Paula Modersohn-Becker in mehreren Ausstellungen gezeigt werden konnte. Später in Moskau schrieb er eine Abhandlung zum Gedenken über Paula Modersohn-Becker.
Krieg
Im Herbst des Jahres 1912 verließ Heinrich Vogeler den Barkenhoff und richtete sich in Berlin ein Atelier ein, in dem er Exlibris und Werbegrafiken, unter anderem für die Firma Bahlsen, entwarf. Seiner allgemeinen Krise konnte er damit jedoch nicht entkommen.
Die bisher geltenden Rahmenbedingungen für sein Leben waren ihm unter den Händen weggebrochen: Er hatte den Anschluss an die künstlerische Entwicklung verloren, seine Projekte für sozialen Wohnungsbau waren gescheitert, seine persönlichen Beziehungen, nicht nur die Ehe mit Martha, waren ebenfalls weitgehend gescheitert, auch in Berlin fand er weder neue Freunde und Freundinnen noch eine künstlerische Anregung, die ihm ertragreich erschien.
In dieser für ihn aussichtslos erscheinenden Situation meldete er sich 1914 wie so viele seiner Kollegen und andere Intellektuelle zur Armee: „Vielleicht letzte Romantik, vielleicht Todessehnsucht führte mich als Kriegsfreiwilligen mit 42jahren in den Krieg – ich fand das Leben, wie es wirklich war.“ Erst einmal hatte er dabei noch Glück: Er musste nicht direkt an Kampfhandlungen teilnehmen, sondern wurde in den Karpaten als Nachrichtenoffizier eingesetzt, wo er im Auftrag des Generalstabs Zeichnungen vom Kriegsgebiet anfertigte. Dabei war er angehalten, realistische Zeichnungen des Kriegsgeschehens zu fertigen; die dabei entstandene Mappe mit Grafiken »Aus dem Osten« erschien 1916. Vogeler zeigte darin Alltagsereignisse aus dem Leben der Bevölkerung wie der Soldaten aus dem Kriegsgebiet. Er zeichnete keine Kriegsbilder im herkömmlichen Sinne, heldenhafte Soldatenszenen fehlten, Kampfhandlungen blieben ausgespart, nur einzelne Bilder mit zerstörter Landschaft und Gebäuden gab es.
Martha kümmert sich während dieser Zeit um den Verrieb seiner Arbeiten und besorgt und schickt ihm Farben und anderes Zeichenmaterial.
Es gibt die Interpretation, dass Vogeler – Anfangs zumindest – die Grausamkeit der Schlachtfelder nicht wahrhaben wollte. Seine weitere Entwicklung zeigt jedoch, dass auch hier die Erkenntnis sich durchsetzte; wieder lernte Heinrich Vogeler aus direktem Erleben und zog seine Schlüsse daraus. Wieder wird Vogeler alles aufs Spiel setzen, um diese Erkenntnis mit aller Konsequenz in eine Praxis münden zu lassen, bei der er diesmal alles, sogar bewusst sein Leben aufs Spiel setzen wird.
Durch die erlebten Grausamkeiten an der Front entwickelte er eine christlich basierte, pazifistische Grundeinstellung und wurde zum Gegner des Kaiserreichs. Er erkannte, dass „die Militärkaste gar nicht fürs Volk kämpfte, sondern für den Mehrbesitz der Reichen.“ Dabei dachte Vogeler vor allem an die einfachen Soldaten, „die den Mächtigen nur als Kanonenfutter taugen. Es muss endlich Frieden sein. Der Krieg hat mich zu einem glühenden Pazifisten gemacht. Nach all dem Elend, das der Krieg über die Völker gebracht hat, kann Deutschland nur noch ein christlich geprägter Sozialismus helfen.“ [zitiert nach Helmut Donat, „Nie mehr hassen“, Das Blättchen 25. Juni 2012]
Heinrich Vogeler änderte auch seinen bisher ornamentalen Stil drastisch. Er entwickelte eine expressionistische Malweise, beispielsweise in den Ölbildern „Die Kranke“ oder „Das Leiden der Frau im Kriege“.
Friedensappell
An der Front bekam er Flugblätter russischer Soldaten zu lesen und er erkannte, dass in Russland Umwälzungen im Gange waren in eine Richtung, die seinen Vorstellungen einer besseren Gesellschaft nahekamen: “( …) wo alles so einfach gesagt war: das Land den Bauern, die es bearbeiten, die Häuser, die den reichen Familien gehörten, für die Familien der Arbeiter, die Fabriken den Arbeitern, die sie selbst verwalten ! Da war an den Grundlagen aller bisheriger Ordnung gerüttelt. (…) Plötzlich fühlte ich mich in der alten Weltheimat- los, aber auch, dass ich nicht verlassen war; ich fühlte, dass Millionenmassen wirklich arbeitender Menschen gewillt waren, die Welt zu verändern.”
An seinen Vorgesetzten, den General von Gerock, schrieb er schon am 22. März 1917: „Durch die russische Revolution wird uns Deutschen noch einmal ein Weg, eine goldene Brücke gebaut, diesem Blutgericht ein Ende zu machen. Bewahrheitet sich die Nachricht von der Zurückberufung des alten Kropotkin aus der Verbannung und die Berufung Gorkis zu verantwortlichen Ämtern, so weiß jeder, der auf den Herzschlag der Zeithorcht, daß in Rußland Männer an die Spitze kommen, die ihr Leben eingesetzt haben für den Frieden.“ [Zit. n. BRESLER 1996, S. 60 f.]
Als sich im Oktober 1917 die bolschewistische Revolution durchsetzte sah er einen Silberstreif am Horizont. Doch statt einer Verständigung diktierte das Deutsche Reich den „Frieden“ von Brest-Litowsk. (Deutschland forderte u.a. die Abtretung der baltischen Gebiete, Belo-Russlands und von Teilen der Ukraine).
Vogeler sollte ein Plakat für die Propaganda neuer Kriegsanleihen anfertigen. Er entschied sich, den Befehl zu unterlaufen; er zeichnete eine Bäuerin mit Holzschuhen, die sich auf einen Spaten stützt und mit der rechten Hand die Augen vor der Sonne schützt. „Zeichnet Kriegsanleihen.“ – „Die Heimat ruft!“ stand auf dem Plakat. Das war nicht, was die Auftraggeber erwartet hatten, kein heroischer Appell, kein völkischer Aufruf, keine Durchhalteparolen. Stattdessen war da eine arme Bäuerin, die ihre Söhne, ihren Mann nach Hause ruft – genauso wie die Bäuerinnen in Russland, der Ukraine und anderswo. Es fiel den Herren Generälen aber schwer, einen genauen Punkt der Kritik an der Ausführung des Plakats zu formulieren, ohne sich bloßzustellen. Sie verlangten einfach einen neuen Entwurf.
Vogeler sah deutlich, dass es sich bei den Bedingungen, die Deutschland als Siegermacht den Russen auferlegt hatte, um einen Diktat- und Raubfrieden handelte. Er fasste den Entschluss: „für die Erkenntnis der Wahrheit alles einzusetzen, um die Last der Lüge nicht durch mein ganzes Leben weiter schleppen zu müssen“.
Statt also während seines Heimaturlaubs in Worpswede einen neuen Entwurf zu fertigen schrieb er im Januar 1918 einen offenen Brief an den Kaiser Wilhelm II und forderte ihn darin zu einem bedingungslosen Frieden auf. „Der Brief eines Unteroffiziers an den Kaiser als Protest gegen den Frieden von Brest-Litowsk“ beinhaltete ein “Märchen vom lieben Gott” und endete: „…Sei Friedensfürst, setze Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung. In die Knie vor der Liebe Gottes, Kaiser!“. Vogeler rechnete damit, dass „die Folge meiner Tat als Unteroffizier nur der Tod durch Erschießen sein kann.“
Heinrich Vogeler hatte wiederum Glück: er wurde nicht wegen Hochverrats angeklagt, sondern in eine psychiatrische Beobachtungsstation nach Bremen eingewiesen, obwohl der General Ludendorff – an den Vogeler eine Kopie des Briefes geschickt hatte – die sofortige Erschießung Vogelers wegen Defätismus gefordert hatte. Der dortige Arzt kannte ihn als Künstler und so konnte er sich der Verarbeitung der Kriegserlebnisse widmen und weiter zeichnen und malen. Nach zwei Monaten Aufenthalt wurde er als “„manisch-depressiver Neuropath“ ” (psychisch Gestörter) dienstunfähig aus dem Militärdienst entlassen und auf dem Barkenhoff unter polizeiliche Aufsicht gestellt.
Er entwickelte langsam einen expressionistischeren und zum Teil an den Kubismus erinnernden Malstil, die Ornamente wichen einer flächigen Aufteilung der Bilder.
Der Kaiserbrief mit dem Märchen vom lieben Gott wurde auf Flugblättern in der Bremer Region verbreitet und nach der Veröffentlichung im April 1919 in der Vossischen Zeitung republikweit bekannt.
Arbeiter- und Soldatenräte in Bremen
Durch die polizeiliche Aufsicht ließ Heinrich Vogeler sich nicht einschüchtern. Zurück in Worpswede wollte er sich für den Aufbau einer neuen Gesellschaft einsetzen. Er öffnete den Barkenhoff in den letzten Kriegsmonaten für politisch interessierte Kriegsgefangene, die bei Großbauern in der Gegend Zwangsarbeit leisten mussten, für deutsche Revolutionär_innen und alle, die mit debattieren und arbeiten mochten. Sie diskutierten die gesellschaftlichen Veränderungen in Russland und die Möglichkeiten eines Umsturzes in Deutschland. Vogeler vertrat einen auf urchristlichen Werten beruhenden Sozialismus und die Idee – nach Robert Owen, Pierre-Joseph Proudhon und Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, für dessen Bücher er Illustrationen schafft. – von sich selbst verwaltenden Gemeinden, deren Mitglieder besitzlos und in gegenseitiger Hilfe miteinander leben sollten.
Zu dieser Zeit lernte Vogeler auch die Pädagogen Johann Knief und Heinrich Eildermann kennen. Eildermann war der Verfasser des “Sozialistischen Schulprogramms”, den pädagogischen Leitlinien der Räterepublik in Bremen. Besonders aber von Johann Knief war Vogeler beeindruckt. Knief hatte in Bremen die Zeitschrift Arbeiterpolitik herausgegeben, um die sich die Bremer Linksradikalen sammelten. Entschieden forderten diese die organisatorische Trennung von der SPD und die Gründung einer eigenständigen Partei. Im November 1918 gründete sich die IKD, und Vogeler nahm Kontakt zu ihnen auf.
Vogeler erinnert sich: “Inzwischen war ich in Verbindung mit den Bremer Kommunisten getreten, die damals als Internationale Kommunisten Deutschlands organisiert waren. Ich suchte den Genossen Johann Knief auf, den ich an der Maschine in der Druckerei traf. Er sagte: `Du hast, wie ich hörte, schon unter den Bauern gearbeitet, arbeite nur so weiter gegen den Krieg. Aber ihr scheint mir da draußen eher Anarchisten zu sein als Kommunisten. wir werden uns noch mit dir auseinanderzusetzen haben.” Knief versuchte Vogeler davon zu überzeugen, sich und die Kommune in der KPD zu organisieren, was Vogeler zu dieser Zeit noch ablehnte.
Gegen den Krieg arbeitete er weiter. In der revolutionären Situation im November hielt er mehrere Vorträge vor Bauern der Umgebung und auch auf dem Barkenhoff fanden Versammlungen statt.
Im Herbst 1918 hatten sich Arbeiter- und Soldatenräte gebildet. In Bremen entstand die erste Räterepublik auf deutschem Boden und dann auch im Umland, wie in Osterholz. Am 8. November wurde Vogeler ins Präsidium dieses Arbeiter- und Soldatenrats gewählt, wo er für die Versorgung der Landbevölkerung zuständig war. Als Pressekommissar scheiterte er weitgehend. Seine Versuche, aufklärende Artikel in den Zeitungen zu veröffentlichen, wurden torpediert; auch sein „Märchen vom lieben Gott“ konnte er in der Presse nicht unterbringen.
Zusammen mit Carl Emil Uphoff und Curt Störmer gründete er die “Gemeinschaft für den sozialen Frieden” und forderte in Flugblättern und Plakaten einen Sozialismus der Nächstenliebe, Brüderlichkeit und des Friedens.
In seinem »Offenen Brief zum Frieden unter den Menschen«, den er 1919 an die »Bauern, heimgekehrten Feldgrauen und die Frauen« richtete, heißt es: »Als ich herauszog 1914 in den Krieg, da dachte ich wie die meisten von Euch, ich glaubte an den Überfall auf unser Land. Da draußen sind wir alle hellsehend geworden. Wir erkannten, dass auch im Heere mit vielerlei Maß gemessen wurde, dass Klassen regiert und Klassen unterdrückt wurden. Es widerte uns an, diese furchtbare Blutarbeit zu tun, als wir auf unser großes ›Warum‹ immer nur die Kriegsziele der Großkaufleute, der Fabrikbesitzer und Großgrundbesitzer hören mussten: Annexion von Kurland, Estland, Belgien. Wie furchtbar viele Menschen haben wir sterben sehen auf beiden Seiten. Und uns wollte das ›Warum‹ gar nicht mehr in den Kopf, und wer für den Frieden sprach, den sah man mit Misstrauen an. Und dann kam der Frieden … von Brest-Litowsk, da war uns alles klar.«
Spätestens jetzt grenzte sich Heinrich Vogeler scharf vom Bürgertum ab und begann konsequent seine Idee einer besseren Gesellschaft umzusetzen.
Vogeler war 1918 Mitglied der SPD geworden, die er schon Anfang 1919 ernüchtert verließ. „Völlig unpolitisch wurde ich durch 4 Jahre Feld Sozialist, Mitglied der Mehrheitspartei. … Doch in der Partei habe ich nur Gegner des Erfurter Programms gefunden“, beschrieb er seine Enttäuschung. (Das auf dem Erfurter Parteitag im Herbst 1891 angenommene Programm war eine Abkehr vom Reformismus des Gothaer Programms der SPD und enthielt z. B. wieder die marxistische Forderung nach der Vergesellschaftung der Produktionsmittel.)
Der Barkenhoff wurde eine Art Hinterland für das linksradikal orientierte Bremer Proletariat. Viele Arbeiter_innen nahmen den langen Weg von Bremen auf sich, um an den Wochenenden in Worpswede Gleichgesinnte zu treffen, zu debattieren und zu arbeiten. Ludwig Bäumer, der auf dem Barkenhoff wohnende neue Lebensgefährte von Martha Vogeler und Pfemferts „Aktion“-Kreis verbunden, war maßgeblich beteiligt an der Räterepublik. Auf diese Weise gab es starke Verbindungen der Kommune nach Bremen.
Das Ende der Räterepublik kam schnell. Auf Anweisung des SPD-Reichswehrministers Gustav Noske beauftragte General von Lüttwitz den Oberst Wilhelm Gerstenberg mit der Niederschlagung der Räte. Am 4. Februar 1919 wurde die Bremer Räterepublik durch diese konterrevolutionären Truppen (die in den Kämpfen das Hakenkreuz am Stahlhelm zeigten) zerschlagen. Das Bremer Proletariat wehrte sich heftig und es kam zu vielen Toten.
Vogeler wurde als „Spartakusanführer“ steckbrieflich gesucht und in Willingen inhaftiert. Er sollte den Bahnhof der Kleinbahn und Bauernhäuser angezündet haben. Selbst der Richter erkannte die Haltlosigkeit der Vorwürfe und ließ ihn gehen. Bei der Vernehmung fasste er seine Erfahrungen zusammen: “Der Krieg hat aus mir einen Kommunisten gemacht. Es war für mich nach meinen Kriegserlebnissen nicht mehr tragbar, einer Klasse anzugehören, die Millionen von Menschen in den Tod getrieben hat aus Gründen, die lediglich in der Profitsucht einzelner ihre Wurzeln haben. Dem arbeitenden Volk wurden immer schwerere Lasten durch den Krieg aufgebürdet, das Volk hatte nur Verluste und Elend durch den Krieg. Es war nicht mehr gewillt, sich durch die Herrschenden ausbeuten zu lassen. Die Arbeiter sahen richtig, dass der Privatbesitz die Quelle der Profitsucht ist.” [Vogeler, Heinrich, Erinnerungen, Hrsg. Erich Weinert, Berlin 1952, S. 252]
Das Ende einer Künstlerkolonie
Im März 1919 kam er zurück auf den Barkenhoff, den er in Auflösung und Durcheinander vorfand. Nur wenige der Mitglieder waren noch dort, einigen Verfolgten diente der Ort als Versteck. Auf dem Barkenhoff lebten nun 6 Menschen, die sich ursprünglich aufgrund der Diskussionen die Gründung einer Kommune zum Ziel gesetzt hatten. Vogelers spätere Einschätzung dieser 1. Kommune war sehr negativ: “Sie ließen aber das Land verkommen, so dass die Bauern, wenn sie vorbeifuhren, mit dem Peitschstil auf die Flut des gelben Hederichs wiesen: “Kick, kiek, de Kommunisten. De hebbt ower ne Freud an de Blomens.” Vom Korn war kaum was zu sehen. Unsere Leute standen spät auf, erst um zehn Uhr waren die beiden Schimmel gefüttert und angespannt. Dann fuhren drei Mann los, um frisches Grünfutter für die Kuh von der Wiese zu holen, das um zwölf Uhr glücklich eintraf. Unter den einzelnen Mitgliedern entwickelten sich mit der Zeit große Gegensätze, die wohl dem Antagonismus zwischen mir und Freund entsprangen.” “Das Ende der Bremer Räterepublik und die Überfälle der Reichswehr (mittlerweile 3 Mal) trugen viel dazu bei, dass die erste Arbeitsgemeinschaft sich auflöste.” [Vogeler, Heinrich, Erinnerungen, Hrsg. Erich Weinert, Berlin 1952, S. 261 f und S.275]
Johannes Knief war da schon ins Hospital eingeliefert worden. Er war im Januar 1919 zum Volksbeauftragten der Bremer Räterepublik ernannt worden und kam noch in diesem Monat gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Lotte Kornfeld schwer krank auf den Barkenhoff. Im Hospital starb er an den Folgen einer Blinddarmvereiterung, Vogeler zeichnete ihn auf dem Totenbett.
Im Mai wurde Vogeler erneut verhaftet: der Barkenhoff galt als linksextremes Zentrum, von dem eine Gefahr für die neue Ordnung ausgehen könnte. Nach seiner Freilassung wehrte sich Vogeler in den Bremer Nachrichten vom 3. Juni 1919 gegen die Hetze und vermutete – zuerst ohne Namensnennung – eine Bespitzelung durch seinen früheren Künstlerfreund Fritz Mackensen, der Mitglied in der reaktionären paramilitärischen Vereinigung “Stahlhelm” geworden war. Später stellte sich heraus, dass Mackensen tatsächlich Berichte an den Leiter der politischen Polizei in Bremen geschrieben hatte: Vogeler „setze sich über jede Sitte hinweg“ und sei „schwer geisteskrank“.
Vogeler bezeichnet Mackensen als „Malerleutnant“, der sich an die neuen Zustände nach 1918 nicht gewöhnen wolle und sich gebärde als eine Art geistiger Feldherr, der wie ein Zwerg auf einem Maulwurfshügel mit Dreck um sich schmeiße.
Damit war die Zeit der Künstlerkolonie endgültig vorbei.
Die gewaltsame Zerschlagung der Rätebewegung in Bremen und überall in Deutschland löste bei Vogeler die Erkenntnis aus, dass eine neue Gesellschaft nur mit neuen Menschen aufgebaut werden könne, die erst noch in neuen Schulen heranwachsen müssten, eine Idee, die er in den Diskussionen mit Knief und Eildermann entwickelt hatte. Ab 1919 befasste er sich mit Pädagogik, schrieb mehrere Aufsätze und Broschüren dazu, wobei er immer wieder auf die besondere Rolle der Arbeit, des kollektiven Verhaltens und der gegenseitigen Hilfe einging – Elemente, die im Erziehungsprozess des neuen Menschen zu fördern wären.
Gründung der Kommune und Arbeitsschule Barkenhoff
Im Sommer 1919 gründete Heinrich Vogeler mit weiteren Genoss_innen die “Kommune und Arbeitsschule Barkenhoff“ um zu zeigen, wie eine neue Gesellschaft ohne bürgerliche Ansprüche auf Privateigentum entstehen könne. Wieder setzte Vogeler alles ein, was er hatte: Zeit, Kraft und Besitz, um zu verwirklichen, was er als richtig befunden hatte. Zum Leidwesen der Bremer Pfeffersäcke wurde die ehemalige Jugendstil – Insel der Schönheit zum Ort eines radikalen Experiments: In Worpswede sollte nun eine „kommunistische Insel in einem kapitalistischen Staat“ entstehen. Das Konzept der Arbeitsschule war angelehnt an das Arbeits- und Produktionsschulkonzept Pawel Blonskijs. Dieser war einer der wichtigsten Schulreformer in der Sowjetunion. Mit dem Buch Die Arbeitsschule von 1919 versuchte er eine neue Pädagogik zu entwickeln, die später eine der Grundlagen des polytechnischen Unterrichts war. Kinder sollten schon früh in die Arbeit mit eingebunden werden, um so eine breite Bildung als Grundlage für eine selbstbewusste Berufswahl zu erlangen. Gleichzeitig würde die Trennung von Kopf- und Handarbeit aufgehoben.
Die Gründung der Kommune und Arbeitsschule Barkenhoff war dabei kein vereinzeltes Unterfangen. Nach dem Zusammenbruch der revolutionären Bewegung in Deutschland wurde überall nach neuen Ansätzen gesucht. An vielen Orten entstanden ähnliche Gemeinschaften. Bei allen Unterschieden war ihnen der Anspruch gemeinsam, den Beweis antreten zu wollen, dass eine andere Gesellschaft machbar sei.
Nicht zuletzt würde die Aufhebung des Kapitalismus auch die Befreiung der Kunst zur Folge haben.
Die Kommune setzte sich nun aus neuen Leuten zusammen, Friedrich Wolf, der ebenfalls dort weilte, schrieb in seinen Erinnerungen: “…Als Stamm neben Heinrich Vogeler 1 Tischler und Zimmermann, 1 Schlosser und Schmied, 2 Landwirte und Gärtner, 1 Gärtnerschüler, 1 Lehrerin, 4 Frauen für Küche und Haushalt und die 10 Kinder, die zum Teil Waisen und Halbwaisen sind. Kriegsbeschädigte, Arbeitslose … ” [Friedrich Wolf, Barkenhoff. Das Tage-Buch, 28. Juli 1921 zitiert nach Petzel S. 132]
Die Kinder waren die drei Töchter von Vogeler selbst, die zwei von Friedrich Wolf und Käthe Gumpold, von Fidi Harjes dem Schlosser, von August Freiträger dem Zimmermann und von Klara Möller, der Witwe eines bei den Berliner Aufständen von 1919 ums Leben gekommenen Revolutionärs, dazu kamen elternlose Kinder aus Berlin.
Die politischen Ansichten der Erwachsenen waren sehr unterschiedlich. Fidi Harjes war Anarcho-Syndikalist, überzeugt von Heinrich Vogeler hatte er seine gesamte Metallwerkstatt von Bremen nach Worpswede geschafft. Der Gärtner Karl Lang war Anthroposoph. Walter Hundt, der eigens Landwirtschaft erlernte um auf dem Hof arbeiten zu können, kam aus der Jugendbewegung. Der Schriftsteller und Arzt Friedrich Wolf, der eine gut bezahlte fast beamtenhafte Stelle als Stadtarzt aufgegeben hatte, war Kommunist. Dazu kamen noch der pensionierte Zimmermann August Freiträger und Klara Möller, beide politisch eher indifferent. Für das pädagogische Experiment waren 1921 neben der ersten Pädagogin, der jugendbewegten Junglehrerin Gerda Sommermeyer, noch das Ehepaar Hedwig und Otto Schoppmeier und ab 1922 Grete Lersch auf dem Hof.
Theoretische Überlegungen zu der Gründung der Kommune veröffentlichte Vogeler 1919 unter dem Titel „Siedlungswesen und Arbeitsschule“. Zusammen mit der „roten Marie“ hielt er Vorträge in ganz Norddeutschland, um das Vorhaben und die Ziele der Kommune zu erläutern. Die Idee solch einer Räte- Kommune stieß auf großes Interesse, denn nach dem Krieg suchten Viele nach Orientierung: Jugendbewegte, Vertreter_innen der Siedlungsbewegung und Anhänger_innen verschiedener Formen des utopischen Sozialismus fühlten sich von der Idee angesprochen. Viele hunderte von jungen Leuten kamen daraufhin zum Barkenhoff, um sich den Hof anzusehen oder auch für eine Weile mitzuarbeiten.
Die “rote Marie”
Auch Marie Griesbach (nicht nur aufgrund ihrer Haarfarbe genannt die “rote Marie”) kam in dieser Zeit auf den Barkenhoff und wurde eine Zeitlang Heinrich Vogelers Lebensgefährtin. Vogeler malte 1919 ein berühmt gewordenes Portrait von ihr. Im April 1919, bei der Beerdigung von Johann Knief, hatten sie sich kennengelernt. Es war die größte Demonstration des Bremer Proletariats seit der Räterepublik.
Die 23-jährige Arbeiterin Marie Griesbach kam aus Dresden. Dort war sie Vorstandsmitglied des Jugendbildungsvereins gewesen und aufgrund ihres Engagements gegen den Krieg eine bekannte Persönlichkeit. Sie hatte – allein – an ihrer Werkbank gestreikt für ausreichende Verpflegung und Schutzeinrichtungen an den Maschinen. Wegen Hochverrats wurde sie monatelang ins Gefängnis geworfen, da sie 1917 ein Flugblatt gegen den Krieg verteilt hatte; infolge der Amnestie von 1918 war sie freigelassen worden. Danach wurde sie Mitglied der Gruppe “Internationale Kommunisten” um Otto Rühle und reiste um Reden zu halten mit den Hauptforderungen: “Verkauft eure Arbeitskraft so teuer wie möglich! Fordert Einsicht in die Gewinne und ihre Verteilung!”
Neben der Arbeit in der Kommune hielt sie Vorträge und vertrat sozusagen die Kommune nach außen. Nachdem sie einige Zeit Vogelers Gefährtin war, verliebte sich 1920 in Walter Hundt, beide verließen den Barkenhoff und bewirtschafteten einen anthroposophisch ausgerichteten Hof.
Revolutionäre Orientierung
Dem Vorschlag, sich der 1919 gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands anzuschließen, wollte Vogeler zu dieser Zeit nicht folgen. Die Kommunisten standen dem Experiment der Kommune mit ihrer utopisch / anarchistisch / christlichen Orientierung ebenfalls sehr kritisch gegenüber. An den Mäzen Ludwig Roselius schrieb er am 5. September 1918: „Mich werden Sie nie auf irgendeiner Barrikade finden, da ich für den Menschheitsfrieden eintrete.“
Heinrich Vogeler entwickelte vielerlei neue Aktivitäten, knüpfte Kontakte zur revolutionären Bewegung, hielt Vorträge, schrieb Artikel unter anderem für den „freien Arbeiter“, die Zeitung der „Föderation kommunistischer Anarchisten Deutschlands“ und für den „Syndikalist“. Auf dem „Barkenhoff“ bildete sich um Fritz Harjes eine FAUD-Gruppe. Sie formulierten im „Syndikalist“ eine Revolutionsvorstellung, und was sie auf dem Lande dazu beitragen könnten in Bezug zu den Industriebelegschaften in den Städten. Nachdrücklich geißelte Heinrich Vogeler die Rolle der Sozialdemokratie als „Verrat“ an der Arbeiterschaft: „(…) Das aufflammende Vertrauen des internationalen Proletariats, das von Deutschland den großen Anstoß zur Abrechnung mit dem imperialistischen Kapitalismus erhoffte, wurde durch den festen Bund der Regierungssozialisten mit dem alten Militarismus völlig erstickt.“ [„Der Syndikalist“, Nr. 30/1919] Die Folgen des Versailler Vertrages habe das Proletariat zu tragen. Die MSPD habe den „Gang der Weltrevolution“ verraten und sich stattdessen mit dem „alten Militarismus“ verbunden: „In wenigen Monaten haben wir durch die Mehrheitssozialisten den reaktionärsten Staat der Welt mit seinem Spitzelwesen, seiner Militärkamarilla, seiner geheimen Diktatur mit der ganzen Verkommenheit alles Schieberwesens. Haben die Fruchtlosigkeit des parlamentarischen Systems so ganz von Herzen kennen gelernt. Wertvolle Kräfte für den Neubau der menschlichen Gesellschaft sind ermordet. Trotzdem wurde den Nosketruppen immer wieder das volle Vertrauen der ‚Nationalversammlung’ ausgesprochen.“ [„Der Syndikalist“, Nr. 30/1919. Vogelers Artikel trug die Überschrift „Abrechnung“.]
Der Sinn seiner Definition von einer „Diktatur des Proletariats“ war folgende: „(Das Proletariat) will mit aller Kraft zu produktiver Arbeit, will sein Geschick selbst leiten, den Verbleib der Produkte seiner angestrengten Arbeit übersehen und allen Besitz, alle vorhanden Güter für die arbeitenden Menschen fruchtbar machen. Das ist der Sinn des Rätesystems, der Diktatur des Proletariats.“ [„Der Syndikalist“, Nr. 30/1919]. Und: „Erfassen wir die Diktatur des Proletariats in ihrer tiefsten Bedeutung, die keine persönliche Diktatur zulässt, keine Autorität anerkennt, so werden sich bald die revolutionären Arbeitermassen über alles Parteigezänk hinweg einigen“. [Siedlungswesen und Arbeitsschule, Steegmann Vlg., Hannover 1919, Silbergäule Bd. 36] Heinrich Vogeler illustrierte unter anderem auch das von Theodor Plievier aus dem Englischen übersetzte Buch Kropotkins mit dem Titel „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk oder Die Vereinigung von Industrie und Landwirtschaft von geistiger und körperlicher Arbeit“.
Zeitweise war Heinrich Vogeler auch Mitglied der KAPD.
Die Kommune und ihre Wahrnehmung
Die Worpsweder Gesellschaft war angesichts der neuen Gemeinschaft gespalten. Gab es zum einen mit manchen Bauern der Gegend einen Austausch von Gerätschaften und gegenseitige Unterstützung, war sie zum anderen bei Vielen als „kommunistischer Miniaturstaat“ verrufen, der die Gegend in Verruf brächte. Es gab Verdächtigungen, Verleumdungen und Denunziationen. Vor allem der freie Umgang miteinander, das Zusammenleben ohne Trauscheine, störte die Konservativen ungemein.
Die Staatsmacht ließ das Anwesen dauerhaft überwachen. Ab und zu kam es zu Razzien, wie zum Beispiel im Mai 1919, als Reichswehrsoldaten das Gelände durchsuchten und Vogeler verhafteten. Da ihm keine kriminellen Taten nachgewiesen werden konnten, musste er nach zwei Wochen wieder freigelassen werden. Franz Pfemfert schrieb 1919 in seiner Zeitschrift „Die Aktion“ anlässlich der zeitweiligen Verhaftung von Vogeler: „Das Expressionistennest in Worpswede ist gesäubert! Der Brutherd des Melusinenmärchens ausgeräumt! Der Urheber der Verkündigung gefangen!“, und: „wehe Euch, wenn Ihr kommunistisch Rosen schneiden, dichten, malen oder meißeln wolltet!“.
Auguste Kirchhoff, eine weit über Bremen hinaus geschätzte Pazifistin und Frauenrechtlerin, erinnert sich an ihren Besuch vom 8. Dezember 1918 mit folgenden Worten: „Wäre die Welt voll Heinrich Vogelers, es stünde besser um alles. So etwas von Güte und vornehmer Gesinnung ist mir noch kaum vorgekommen. Dabei eine so feine, selbstverständliche Gastfreundschaft … Das Schönste aber ist die ungeheure Natürlichkeit und Bescheidenheit dieses hervorragenden Künstlers und Menschen. Übrigens ist er ein überzeugter Kommunist durch seine Kriegserlebnisse geworden. Bei ihm stört das gar nicht; denn einmal soll das alles durch den Geist, durch die Liebe gehen mit Ablehnung aller Waffengewalt, und dann steht er mit Taten hinter seinen Worten.“ [Zitiert Nach Helmut Donat, Nie mehr hassen, Das Blättchen, 25. Juni 2012]
Friedrich Wolf schrieb in sein Tagebuch: „Sie haben bereits zwei Jahre die produktive Erwerbsfürsorge und Siedlungsfrage auf ihre Weise zu lösen versucht. Sie haben sich bis heute weder durch das Misstrauen der bürgerlichen Umwelt noch durch Spott und Verdächtigungen aus dem proletarischen Lager irremachen lassen. Es ist ihnen in zwei Jahren gelungen, 10 Morgen Wiese und Zierland aufs intensivste gärtnerisch zu bewirtschaften, sie haben 3 bis 4 Morgen Oedland gerodet und kultiviert, sie haben Werkstätten eingerichtet, ein kleines Wohnhaus und einen großen Schuppenmit eigenen Kräften gebaut, sie haben 4 Waisenkinder ohne Vergütung in Pflege genommen, Sie sind von der Phrase zur Tat übergegangen.“ [Friedrich Wolf, Barkenhoff. Das Tage-Buch, 28. Juli 1921 zitiert nach Petzel S. 132]
Außerordentlich wichtig wurde die Kommune in ihrer Ausstrahlung auf vor allem die norddeutsche proletarische Jugendbewegung. “Tag für Tag kommen Studenten und Jugendliche, um einzukehren in einen Bereich, der der ihre ist. Überall sind sie zu finden, wo Arbeit ist. Aber sie lagern auch herum und tummeln sich am Teich.” [Hundt, Walter, Heinrich Vogeler und die Arbeitsschule Barkenhoff e.V. in Worpswede, Staatsarchiv Bremen, S. 151, zitiert nach G Heinecke, „Frühe Kommunen in Deutschland“, Bielefeld 1978]. Und Heinrich Vogeler erinnert sich: “In dieser ganzen Zeit gingen größere Wanderungen über den Barkenhoff, proletarische Jugend, freideutsche, linksradikale Jugend. Wir bauten Unterstände für die vielen Menschen, saßen abends am Feuer mit ihnen zusammen und diskutierten über die wichtigsten Fragen der Jugend. Der Platz vor dem Hause eignete sich sehr gut zum Lagern, und aus den Zusammenkünften wurden wichtige Schulungskurse. Es wurde über die politische Lage und vor allem über Sowjetrußland diskutiert”.
Aber nicht nur Jugendliche kamen, um sich Anregungen zu holen von der Kommune, auch Arbeiter der Bremer Werften und Arbeiterinnen der umliegenden Industrien und Werkstätten besuchten den Hof an den Wochenenden, oft mit ihren Familien. Ebenso bekannt war die Kommune und Arbeitsschule unter den linken Intellektuellen, weit über das Bremer Umland hinaus; Otto Rühle, Martin Buber, und viele andere interessierten sich für das Projekt und blieben für einige Zeit auf den Barkenhoff.
Kunst und der „neue Mensch“
Im September 1919 gehörte Heinrich Vogeler mit Ludwig Rubiner und anderen zu den Gründungsmitgliedern des »Bundes für proletarische Kultur«, der schon Anfang 1920 wieder aufgelöst wurde. In dieser Kulturorganisation waren Kommunist_innen, ebenso wie Anarchist_innen und Syndikalist_innen aktiv. Sie wollten die Grundlagen für eine neue proletarische Kultur legen, die letzten Spuren der bürgerlichen Kultur aus dem Bewusstsein der Arbeiterklasse auslöschen, und eine Kultur begründen, die eine Rolle bei der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft spielen könnte. Es galt einen selbstbewussten kämpferischen Menschen zu schaffen, der „Neue Mensch“ sollte wachsen.Mitglieder des Bundes waren unter anderem auch Johannes R. Becher, Alfons Goldschmidt, Artur Holitscher, Franz Jung und Rudolf Leonard.
Zwar verwarf Vogeler damit auch den Jugendstil endgültig, jedoch sein alter Anspruch, dass Kunst für den Gebrauch da sein und dem Menschen zu dienen habe, blieb bestehen. War der Jugendstil-Barkenhoff der Versuch einer Versöhnung von Kunst und Leben und eines Lebens in Schönheit, so bedeutete die Barkenhoff-Kommune den Versuch einer Annäherung an die Utopie eines befreiten Lebens der „werktätigen Liebe“, wie Vogeler schrieb.
Die Kunstproduktion war von nun an in den Zusammenhang eines revolutionären oder zumindest revolutionär beabsichtigten Gebrauchs gestellt. Die neuen Bilder lösten in der Kunstszene der Weimarer Republik heftige Diskussionen aus. Unterstützung fand er später in der Dichterin und Journalistin Berta Lask, die ihm in der Roten Fahne bescheinigte, dass in diesen Bildern »das Leben des Proletariats in einfacher, allen verständlicher, inniger, rührender, phantasievoller Weise dargestellt und von Kämpferischem erfüllt« sei.
Um die Frage, wie Kunst und Kultur mit zur Gestaltung der gegenwärtigen gesellschaftlichen Realität beitragen könnten kreiste Heinrich Vogeler auch in seinen vielen Schriften, unter anderem „Über den Expressionismus der Liebe“, „Das neue Leben. Ein kommunistisches Manifest“, „Siedlungswesen und Arbeitsschule“, „Proletkult“, „Expressionismus“ und Anderen.
Dabei zielten diese oft als Broschüre erschienenen Schriften auf direkten Gebrauch, auf praktische Umsetzung. Vogeler reflektierte seine Erfahrungen und machte Vorschläge.
Mehrere dieser Schriften erschienen in der Reihe „Die Silbergäule“ des Hannoveraner Steegemann-Verlages, in der anfangs herausragende Vertreter des deutschen Expressionismus veröffentlicht wurden. Durch die Publikation von Texten wie Hans Arps “Wolkenpumpe”, Kurt Schwitters “Anna Blume”, Walter Serners “Letzte Lockerung” oder Richard Huelsenbecks “En avant dada” wurde sie neben dem Malik-Verlag in Berlin zu einer bis heute bedeutenden Reihe von Veröffentlichungen des Dadaismus in Deutschland. Beide Verlage zeigen die zeitweilig enge Berührung zwischen politischer und ästhetischer Avantgarde dieser Zeit.
Trennung von Martha Vogeler
Lange war Martha für Vogeler der Zugang zur Worpsweder bäuerlichen Welt und der Natur der moorigen Landschaft gewesen, als 22-jähriger hatte Vogeler die 14-Jährige Martha kennen gelernt. Ab da stand sie ihm Modell und wurde unter seiner Anleitung zu einer preisgekrönten Kunsthandwerkerin. Schon 1897 erhielt sie für einen Wandbehang, der in der Gemeinschaftsausstellung der Worpsweder in Dresden mit ausgestellt wird, 600 Goldmark.
Im März 1901 heirateten Martha Schröder und Heinrich Vogeler, Martha zog auf den Barkenhoff, richtete sich dort ein Atelier ein und begleitete Heinrich auf Reisen wie nach Paris. Ab etwa 1907 begann Martha sich von Heinrich zu lösen, ab 1909 hatte sie eine Liebesbeziehung zu Ludwig Bäumer, der als Gast auf den Barkenhoff gekommen war. „Die Gastfreundschaft des Barkenhoffes war bekannt […] und bot manchem […], der zeitweilig auf Strand geraten war, ein Obdach, bis er wieder flott war
und sich eine eigene Existenz im Dorfe aufbauen konnte. Die Jugend war es schon gewohnt, ihre Sorgen bei der jungen Mutter Martha abzuladen, die immer Rat und Hilfe wußte.“ [Vogeler, Heinrich, Werden – Erinnerungen, Fischerhude 1989, S. 127] In Worpswede begann Ludwig Bäumer für Zeitschriften Artikel zu schreiben, unter anderem für Pfemferts „Die Aktion von Mitte 1913 bis Mitte 1919 fast vierzig Beiträge: Gedichte, Glossen, Nachrufe, politische Essays. Nach dem Krieg war Bäumer Mitgründer der IKD. Ende Dezember fuhren Ludwig Bäumer als Bremer Volksbeauftragter und Martha nach Berlin, wo er sich an der Gründung der KPD beteiligte. Schon bald darauf trennten sie sich jedoch.
Martha nahm gemeinsam mit Heinrich Vogeler 1910 an der Brüsseler Weltausstellung teil und stellte dort in der Vorhalle ihre „Binsen- oder Flechtmöbel“ aus. Während des Krieges kümmerte sich Martha um die Werke ihres Mannes und versorgte ihn mit Malutensilien.
1918 beteiligte sich Martha noch an den Aufrufen für ein Frauenwahlrecht und in ihrer Wohnung wurde eine ‚Volksbibliothek’ eingerichtet, doch Vogelers weitere Politisierung entfremdete sie zunehmend voneinander.
1920 zog Martha Vogeler mit Vogelers finanzieller Unterstützung samt den drei Töchtern in das so genannte „Haus im Schluh“. Dieses Haus wurde mit den finanziellen Mitteln von Vogeler in einem nahegelegenen Dorf ab – und in Worpswede wiederaufgebaut. Das mit Heinrich und Martha befreundete jüdische Ehepaar Löhnberg hatte 95 000 M für den Kauf des Geländes „Im Schluh“ zur Verfügung gestellt.
Vogeler übergab Martha die meisten Möbel aus dem Barkenhoff und trat alle Rechte an seinen Vorkriegswerken an sie ab. Vogeler konzentrierte sich ganz auf das Leben auf dem Barkenhoff.
Siedlungsgemeinschaft, Selbstversorgung und Pädagogik
Die neue Kommune hatte viele Facetten. Sie war eine Siedlungsgemeinschaft, die durch Landwirtschaft die Eigenversorgung sichern sollte, sie war durch die Werkstätten eine Produktionsgemeinschaft, und sie war eine Arbeitsschule für Waisenkinder, wobei die verschiedenen Bereiche durch eine Organisation in Räten zusammengehalten werden sollten. Es ging um den Versuch, inmitten der kapitalistischen Umwelt ein „neues Leben“ – so der Titel einer programmatischen Schrift von Heinrich Vogeler – zu verwirklichen – im Kontext der revolutionären Ansätze dieser Zeit. “Die Kommune versteht sich als eine Mustergemeinschaft im kapitalistischen Staat, eine Keimzelle der kommunistischen Gesellschaft mit “natürliche(r), gemeinwirtschaftliche(r) klassenlose(r) Ordnung.”
Die Arbeitsschule war dabei ein wichtiger Bestandteil in Vogelers pädagogischen Überlegungen. In solchen Schulen sollte sich der neue Mensch entwickeln können.
Im Gegensatz zur bürgerlichen Schule sollte die Arbeitsschule „den organisch wachsenden und befreienden Schöpferprozess im Kinde zum Leben fördert, um den jungen Menschen zu einer vollen individuellen Gestaltungskraft in der Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen zu bringen.“
In seinen Schriften beschrieb er den Auftrag der Schule in der alten Gesellschaft: „Die Schuld am Weltkrieg liegt sehr stark in der Schule der vergangenen Zeit begründet. – Das unselbständige Denken, der Glaube an Autorität, die Zurichtung allen Wissens auf materiellen Gewinn, das Streben nach der bestbezahltesten von der Autorität des Staates anerkannten Stellung brachte in der Schule die elendeste Korruption, machte die Schüler zu denkunfähigen Untertanen, zu willigen Ausbeuteobjekten und Werkzeugen für das Kapital …” [zitiert nach Bresler, Heinrich Vogeler – Ein Reformpädagoge?, Vortrag, 2012]
„Das Bedürfnis nach der Arbeitsschule ist gerade daraus entstanden, unser geistiges Leben frei zu machen von dem Einfluß des Mammons, unser Wirtschaftsleben aber so mit dem Geist des Sozialismus, mit dem Geist der Menschlichkeit, der gegenseitigen Hilfe zu durchdringen, daß das Wirtschaftsleben das stärkste Ausdrucksmittel unseres geistigen Zustands ist.“ [Vogeler, Heinrich, „Über die kommunistische Schule. Die Arbeitsschule“, Potsdam Berlin, München, 1920]
In einer weiteren in Hamburg 1921 herausgekommenen programmatischen Schrift ist sozusagen der Sinn des gesamten Unternehmens zusammengefasst in der Überschrift: „Die Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft“
Die Selbstversorgung der Kommune sollte durch intensiven Gartenbau erreicht werden, und so wurde im Jugendstilgarten nun Gemüse gezogen, statt Rosenbeeten wurden nun Komposthaufen und Berieselungsanlagen für die Äcker angelegt. Mit der Nachbarsiedlung des Hamburger Landschaftsarchitekten Leberecht Migge, dem Sonnenhof, war nach dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe der Austausch von Arbeitskräften und landwirtschaftlichen Maschinen geplant. Weitere Kontakte gab es mit anderen Siedlungs- und Schulprojekten, wie mit der Gymnastikschule Loheland bei Fulda, mit proletarischen Arbeiter-Heimvolkshochschulen und anderen, wobei es manchmal punktuelle Zusammenarbeit oder Austausch von Mitarbeitenden gab.
Überhaupt wurde das kulturelle Leben rundherum aufmerksam verfolgt, auch zu modernen Strömungen wie dem Bauhaus, wohin ein Mitarbeiter gesandt wurde, um sich das dort praktizierte pädagogische Konzept anzueignen.
“Das Leben auf dem Hof wird durch eine Hausordnung geregelt. Oberstes Gesetz ist die gegenseitige Hilfestellung in allen Dingen. Arbeitsplan und -verteilung für den jeweiligen folgenden Tag muss gemeinsam festgelegt werden. Punkt vier der Ordnung besagt, dass alle Einnahmen und Ausgaben durch die Finanzleitung geregelt werden. Innerhalb der Kommune ist jeder Geldverkehr und jede Verrechnung ausgeschlossen. Punkt fünf: Die Kinder der Gemeinschaft sind bei leichten Arbeiten heranzuziehen, damit in ihnen der Sinn für gegenseitige Hilfe geweckt wird. Auf das Spiel der Kinder ist so einzuwirken, dass diese spielend zur Produktivität übergeleitet werden. Ein jeder muss sich immer wieder seiner Lehrpflicht durch das lebendige Beispiel bewusst sein und die Jugend in jeder Form und zu jeder Zeit mit den Arbeiten und Bedürfnissen der Kommune vertraut machen. ” [Vogeler, Heinrich, Das neue Leben, Darmstadt und Neuwied 1972, S. 139]
“Die Arbeitsschule soll ein Teilstück der Kommune sein und soll die Verbindung zwischen Wissenschaft und Lehen herstellen. In ihr gibt es keine Altersgrenzen, sondern sie ist eine Arbeitsgemeinschaft von Kindern und Erwachsenen. Jedes Kommunemitglied hat Erzieheraufgaben zu erfüllen, d.h. je nach Bedarf in der Produktion oder in der Schule tätig zu sein. Die Schule soll eine ‘Lebensschule’ sein. Die Kinder lernen in und an der Natur mit dem Material, was sich ihnen gerade bietet. Während ‘die alte Schule den organisatorisch-mechanistischen Lernprozess verwirklicht, um aus dem Kind brauchbares Menschenmaterial zu machen’, fördere ‘die Arbeitsschule den organisch wachsenden und befreienden Schöpfungsprozess im Kinde zum Leben…, um den jungen Menschen zu seiner vollen individuellen Gestaltungskraft in der Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen zu bringen.” [Vogeler, Heinrich, Das neue Leben, Darmstadt und Neuwied 1972, S. 31]
Auch Heinrich Vogeler selbst beteiligte sich an der Schularbeit. Es war ihm wichtig selbst Erfahrungen mit der pädagogischen Arbeit zu machen, die er dann in seinen Schriften reflektierte. Er führte die Kinder an Kunst heran, sie malten im Freien im Umland, sie gestalteten Kostüme und Masken für Theateraufführungen. Auch an der Garten- und Feldarbeit nahm Vogeler mit den Kindern teil. Die Schularbeit wurde von allen Barkenhoff-Bewohnern geteilt, sie war ausdrücklich nicht nur Aufgabe der Erzieherinnen. Das Angebot des pädagogischen Alltags wurde ergänzt, als Käthe Wolf, die Frau Friedrich Wolfs, auf den Barkenhoff kam. Sie war Gymnastiklehrerin und führte mit den Kindern das Mensendieck’sche Turnen durch. Im Frühjahr 1921 kam die Lehrerin Gerda Sommermeyer für die Betreuung der Kinder auf den Hof.
Für die Sicherung der wirtschaftlichen Grundlage und zur Umsetzung des Arbeitsunterrichts für die 6-10 Kinder wurden Werkstätten eingerichtet, wie unter der Leitung von Friedrich Harjes eine Metallwerkstatt. Dort entstanden kunstgewerbliche Metallobjekte nach Vogelers Entwürfen ebenso wie Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände. Harjes trieb auch das Symbol der Kommune, eine große Hand, die ein Kind schützend umfasst, in Messingblech. Später entstand eine Holzwerkstatt unter der Leitung des Zimmermanns August Freiträger. Da Vogelers künstlerischer Ruf immer noch trug, konnten die Werkstätten viel zur Finanzierung der Kommune beitragen.
Die Schule sollte wie die sie umgebende Gesamtkommune selbstversorgend arbeiten. Landwirtschaft, Gärtnereien und Werkstätten sollten in und von der Schule betrieben werden. Leitgedanke solch einer Arbeitsschule war daher, “[…] das Kind durch aktive Arbeit an dem Wirtschafts- und Handwerksbetrieb der Schule so teilnehmen zu lassen, dass das Kind von dem Gefühl getragen ist, ein Mitglied der Gemeinschaft zu sein, auf dessen gestaltende Kraft es ankommt, das durch sein ganzes Leben und Gestalten dazu beiträgt, die Lebensverhältnisse aller zu entlasten und zu verbessern. Alle Pädagogik geht von einem Kollektivgefühl aus […].” Alle Lehraufgaben für die Kinder würden sich aus dem Gemeinschaftsleben entwickeln.
Die Kinder sollten mit kleinen selbstverantwortlichen Aufgaben an die Arbeit herangeführt werden. “Das Kind beginnt frühzeitig mit der Pflege der Tiere, später ist es das Bekanntwerden mit dem Arbeitsgerät, mit der Maschine und ihre Pflege; daran schließt sich das Studium der wichtigsten Arbeitsformen […].” Vogeler forderte für die neue Erziehung die Einheit zwischen Lernen und Arbeiten. Diese Ganzheitlichkeit sollte sich immer aus den Alltagserfahrungen der Kinder ergeben. “So geben die verschiedenen täglichen Arbeiten des Gemeinschaftslebens die Lehrmittel für den mannigfaltigen Schulplan des Tages. Es kann die Ankunft des Saatpakets durch die Post dem Tag den Charakter des Rechentages, der Ordnung und Verteilung der Saat auf dem Fensterbrett und freie Aussaat geben. […] alles Lernen [wird] aus den Bedürfnissen für die Gemeinschaft wachsen.”
Seine Ideen verbreitete Vogeler nicht nur in seinen Schriften, sondern hielt vor Pädagog_innen und jugendbewegten Kreisen Vorträge. Er nahm 1920 an der Reichsschulkonferenz teil, wo er in der Arbeitsgruppe „Arbeitsunterricht” seine Erziehungskonzepte vertrat und sie gegen bürgerlich geprägte Arbeitsschulkonzepte abgrenzte. Zeitweise ging das mit Verbündeten wie Edwin Hoernle, der anfangs Vogeler aber auch sehr kritisch gegenüberstand. Des Weiteren war Heinrich Vogeler Referent bei Tagungen des „Bundes Entschiedener Schulreformer”, wo er in Diskussionen unter Leitung Paul Oestreichs seine Ideen und Erfahrungen zur Diskussion stellte.
Nach der Konferenz veröffentlichte er das Manifest einer „Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft“. Von diesem Manifest ausgehend hielt er Vorträge, korrespondierte mit einer Anzahl weiterer Reformpädagogen und entwickelte die Idee der Arbeitsschule mit ihrer „Selbsterziehung zur gegenseitigen Hilfe“ in mehreren Schriften weiter.
„Das Grundlegende Gesetz der Schule ist die Selbsterziehung zu gegenseitiger Hilfeleistung in allen Dingen, es schließt ein, daß der schwächere Genosse von dir nicht durch Kritik verneint, sondern durch deine Tat gestützt wird. Nirgends gilt das Wort, sondern überall nur die Tat, das befreiende Beispiel.“ So formuliert es „Der Arbeiterrat der Arbeitsschule von 1921.[Barkenhoff‘ in der „Betriebsordnung der Arbeitsschule Barkenhoff“ Abdruck (Faksimile) in ROHDE 1997, S. 277.]
Letztlich wurde das Konzept der Arbeitsschule, wie es von Vogeler und seinen Mitstreiter_innen gedacht war, nie wirklich umgesetzt. Die Arbeitsschule blieb ein Stückwerk, das überhaupt nur recht kurze Zeit bestand.
Fresken im Barkenhoff
Um 1920 begann Heinrich Vogeler mit einer neuen Ausgestaltung des Barkenhoffs. Er bemalte die Wände der Räume mit Fresken, zeitweise gemeinsam mit seiner Tochter Mieke, die u. a. Szenen revolutionären Kampfes und Entwürfe neuen gesellschaftlichen Lebens zeigten. In seinem expressionistischen Stil, der für die Aufgabe der Wandmalerei erweitert wurde, wurden architektonische Raumelemente in die Komposition einbezogen, wobei Vogelers prismatisch zerlegte Kompositionen verschiedene Bildräume miteinander verbanden. Vogeler übermalte und ergänzte die Malereien im Juli 1926.
Über dem Kamin im großen Saal malte Vogeler als Mittelpunkt das Symbol des Kinderheims, die Hand, die ein Kind schützend umfasst, darüber einen roten Stern mit Hammer und Sichel. Weitere Bilder zeigten „Leben und Kampf der politischen Gefangenen“, „Gefängnissturm“, „Erschießung“, „Gefangenenbefreiung“, „Das schöpferische Leben der Kinder in der kommunistischen Gesellschaft“, „Leben und Kampf der einfachen Menschen und die Ideen der brüderlichen Hilfe“, „Kampf der farbigen Völker“ und „Arbeit der Kinder im Gemüsegarten des Barkenhoffs“.
Der mexikanische Maler Diego Rivera, der 1927 Worpswede besuchte, als er auf dem Weg nach Moskau kurz in Worpswede Halt machte, besichtigte diese Fresken; später wurde er ein bedeutender Vertreter des Muralismus. Die spanische Begriff Murales bezeichnet Wandmalerei im öffentlichen Raum, meist unter Verwendung eben der Freskentechnik, die auch Heinrich Vogeler anwandte.
Arbeitsschule und Behörden
Im Mai 1921 beantragte Vogeler beim Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung die staatliche Förderung für die im Aufbau befindliche Arbeitsschule. Mit dem Datum vom 17. Mai 1921 stellte die Barkenhoff-Kommune den Antrag auf Anerkennung als Versuchsschule. Dem Antrag waren das pädagogische Konzept der Arbeitsschule in Form Vogelers programmatischer Schrift „Die Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft“ beigefügt.
Aus dem Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung gab es anfangs ein Signal, dem Antrag stattzugeben und der Arbeitsschule Barkenhoff eine vierjährige Entwicklungsfreiheit zu gewähren. Abschließend sollte aber nach einem vom Landrat Becker anzufertigenden Bericht entschieden werden. Im April 1921 kam dann die offizielle Ablehnung als Versuchsschule mit der Begründung, sie ersetze nur das Elternhaus, sei also keine eigentliche Schule. Der preußische Pressedienst benannte die Ablehnungsgründe deutlicher und schrieb: „Schließlich muss noch festgestellt werden, dass die Siedlungsgemeinschaft Barkenhoff den bestehenden Staat grundsätzlich verneint, und kein Minister, der sich seiner Verantwortung gegenüber dem Staat und der Verfassung bewusst ist, kann seinerseits Bestrebungen auf Kosten eben dieses Staates unterstützen, der durch sie von innen heraus gestürzt werden soll.” Am 14. Juli empfahl Becker also die Verweigerung der Anerkennung wegen der staatsfeindlichen Zielsetzung der Kommune, was dann mit dem Schreiben des Ministeriums vom 10. August 1921 auch geschah. Nach diesem Rückschlag konstituierte sich die Barkenhoff-Gemeinschaft am 21. September als „Verein Arbeitsschule Barkenhoff e.V.“, und gab sich eine Satzung, die die Kommune- und Erziehungsideale widerspiegelte. Der Verein „Arbeitsschule Barkenhoff e.V.“ wurde am 10. November 1921 vom Amtsgericht Lilienthal anerkannt.
Nachdem sich die Hoffnung auf staatliche Mittel somit erledigt hatte, ließ Vogeler in der linken Presse und in Zeitungen der Jugendbewegung Aufrufe drucken, in denen er zur Unterstützung aufrief.
Ende des ersten Experiments
Ökonomisch und finanziell war die Arbeitsschule Barkenhoff auf den Austausch mit der kapitalistischen Außenwelt angewiesen. Diese war mittlerweile in eine stetige anwachsende Inflation geraten, was dazu führte, dass sich das Leben grundlegend verteuerte. Immer mehr Geld wurde benötigt, um Werkzeuge, Baumaterial, Maschinen Saatgut etc. zu beschaffen. Vogeler bekam auch keine Kredite mehr gewährt, unter anderem, da sein Kreditrahmen aufgrund der Finanzierung für Martha Vogelers Umzug und Hausbau ausgeschöpft war, aber sicher auch aus politischen Gründen.
Dadurch wurde Leben auf dem Barkenhoff mühsamer. Die Selbstversorgung funktionierte nicht gut, und auch ein Naturalientausch mit den Bauern der Umgebung konnte das nur schlecht auffangen. Die der Kommune gehörende Ackerfläche, die zum Teil ja erst urbar gemacht werden musste, war klein und von schlechter Qualität.
Auch die Handwerksbetriebe konnten immer weniger für eine ausreichende ökonomische Grundlage sorgen. Teilweise bekamen sie Material von Genoss_innen geschenkt. Fritz Jordi schenkte der Kommune ein Sägewerk, das aber ebenfalls nicht bewirtschaftet werden konnte, unter anderem aufgrund von Streitigkeiten über die damit verbundene verstärkte Einbindung in die kapitalistische Geldwirtschaft, die viele Kommunemitglieder ablehnten. Zeitweilig hatte Ludwig Roselius als alter Freund und Mäzen Vogelers immer mal wieder Bilder von ihm gekauft und somit finanziell ausgeholfen, jedoch missbilligte er Vogelers Hinwendung zum Kommunismus und stellte das ein.
In einem Brief an Else Wolf vom 9.6.1921 schilderte Friedrich Wolf die Zustände: “Doch eins ist mir klar, der hiesige Kampf mit Böden, Mensch und Umwelt verbraucht die Barkenhoffer schnell; der Barkenhoff frißt Menschen.” Das Theaterstück “Die Kolonie Hund”, das Friedrich Wolf 1926 verfasste, beschreibt, wie schwer es die Mitglieder der Kommune hatten. Berühmt wurde der Arzt später durch sein Engagement zusammen mit Else Kienzle gegen den §218, über den er 1929 das Stück Cyankali schrieb, welches eine breite Diskussion über den Abtreibungsparagrafen einleitete.
Die Arbeitsbelastung der Kommunemitglieder war enorm, es blieb immer weniger Zeit für Gemeinsamkeiten, für Diskussionen und schon gar nicht für Feiern. Auf den wöchentlichen Treffen musste nicht nur über die Arbeit und die weiteren Planungen gesprochen, sondern auch die sozialen Konflikte mussten gelöst werden.
Der ursprüngliche Gedanke, die Arbeitsteilung aufzuheben, insbesondere die zwischen den Geschlechtern, konnte nicht verwirklicht werden, da die Fachleute der Gewerke voll eingespannt waren in ihre jeweiligen Tätigkeiten. Auch die Weitergabe von Wissen blieb damit auf der Strecke, Gäste und Genoss_innen, die zur Unterstützung kamen, konnten nur in einfache Tätigkeiten eingebunden werden, Entscheidungen waren abhängig vom Fachwissen der Einzelnen und konnten kaum noch gemeinsam getroffen werden.
Zudem kamen die Auseinandersetzungen zwischen den Kommunemitgliedern zunehmend zum Tragen. Lebens- und Erziehungsfragen wurden in dem Spannungsfeld zwischen anthroposophischen und anarchistisch-syndikalistischen Ideen diskutiert, was bald zum Bruch zwischen einzelnen Personen führte. Dazu kamen die Konflikte im Spannungsfeld von Familienleben und Kommuneleben, was in der Folge zu Beziehungskonflikten und persönlicher Entfremdung zur Gemeinschaft führte.
So verließ Fidi Harjes, Leiter der Metallwerkstatt, im November 1922 mit seiner Familie und der Werkstatteinrichtung den Hof.
Schon nach kurzer Zeit war der Anspruch der Kommune gescheitert, die Möglichkeit aufzuzeigen für eine neue Gesellschaft, die nicht mehr von Profit- sondern von Bedarfswirtschaft geprägt sein sollte, in der das Privateigentum an Produktions- und Konsumgütern aufgehoben werden sollte und Geldwirtschaft durch den einfachen Warentausch abgelöst werden sollte.
Die Kommune beschränkte sich nun mehr und mehr auf den wirtschaftlichen Teil des Siedlungsversuchs, die pädagogische Arbeit und die Arbeitsschule existierte nur noch formal. In einem Polizeibericht vom November 1922 wurden nur noch drei Kinder auf dem Hof festgestellt.
Sonja Marchlewska – Erste Reise in die Sowjetunion
Weihnachten 1922 besuchte der Altbolschewist Julian Marchlewski, ehemaliger Gefangener, Vertrauter Lenins und Mitbegründer der Internationalen Roten Hilfe (IRH), der im Auftrag der Kommunistischen Internationale in Deutschland weilte, um als Freund und Mitarbeiter Rosa Luxemburg zu unterstützen, seine Tochter Zofia (Sonja), die auf dem Barkenhoff lebte. Marchlewski war auch Rektor der Kommunistischen Universität der Nationalen Minderheiten in Moskau und gerade zum Vorsitzenden der IRH ernannt worden. Es entspannen sich intensive Diskussionen, die dazu führten, dass sich Vogeler und Marchlewski einigten, Kinder gegen Entgelt auf dem Hof unterzubringen. Die Rote Hilfe wurde ab 1923 passives, aber förderndes Mitglied der Arbeitsschule Barkenhoff e. V.
Im Mai 1923 reiste Heinrich Vogeler auf Einladung Julian Marchlewskis zum ersten Mal in die Sowjetunion, zusammen mit Sonja Marchlewska. Beide verliebten sich und nach der Scheidung von Martha heirateten sie. 1923 wurde der gemeinsame Sohn Jan in Moskau geboren.
Vogeler blieb bis zum September 1924 als gering bezahlter Universitätsangestellter in Moskau und entwickelte dort seinen neuen Stil der Komplexbilder weiter.
Im Herbst 1924 verließ er Moskau wieder in Richtung Berlin, nachdem er ein Angebot des langjährigen Mäzens Ludwig Roselius ausgeschlagen hatte, ihm in Bremen ein Atelier einzurichten.
In seinem Reisebericht, der 1925 unter dem Titel „Reise durch Rußland, Die Geburt des Neuen Menschen“ in Dresden erschien, zeigte sich sein immerwährendes Interesse an der Arbeitsschule. Er ging ausführlich ein auf die Erziehung als „dem wichtigsten kommunistischen Problem …, das die kommunistische Gesellschaft grundlegend von der kapitalistischen unterscheidet.“ (VOGELER 1925, S. 56)
Die Entwicklung der Komplexbilder
Ab 1918 war das kristalline Element in seinen Bildern aufgetaucht, das erste Mal bereits in der Radierung „Die sieben Schalen des Zorns“. Inspiriert auch vom Kubismus mit seinen geometrischen Formen sollte das Kristall die Grundstruktur seiner Komplexbilder werden, auf denen er unterschiedliche Szenen zu vereinen versuchte. Dabei verfolgte der Künstler, wie er in seinen Lebenserinnerungen schrieb, eine „agitatorisch-propagandistische Form zu finden, die unserer Arbeiterschaft einen möglichst umfassenden Einblick in das Werden der sozialistischen Gesellschaft nach der großen Oktoberrevolution geben sollte.“
Heinrich Vogeler wollte in der Sowjetunion am Aufbau einer menschlicheren Gesellschaft gestalterisch mitwirken: „Ein Künstler, ein unpolitischer, kommunistischer Philosoph kommt nach Rußland als Suchender. […] Als Gestalter steht er mitten im Kristallisationsprozeß, er sieht den klaren, zukunftsträchtigen Aufbau der Union der Räterepubliken, er erkennt den lebendigen Organismus der Gesellschaft der Arbeitenden.“
Der „Kristallisationsprozess“ wurde nicht nur von Vogeler wahrgenommen. Es fanden sich überall in der Kunst, in Malerei, Bildhauerei und Literatur Künstler, die die Chance zu einer Neugestaltung der Welt sahen und das Element des Kristalls als Symbol dieser Hoffnung tauchte in vielen Zusammenhängen auf. Angefangen mit den frühen Experimenten dazu wie Paul Scheerbarts »Glasarchitektur« über Bruno Tauts im »Frühlicht« bis zu Wassili Luckhardts 1919 entstandenes »Formenspiel« und das »Denkmal für die Märzgefallenen« von Gropius in Weimar. In diesen architektonischen und bildhauerischen Werken bildet das Kristall eine regelmäßige und symmetrische Form; sie soll hinweisen auf die Utopie des menschlichen Lebens ganz im Sinne einer emanzipatorischen Bewegung der sozialen und kulturellen Erneuerung der Gesellschaft im Gegensatz zu der als überwindbare erhofften Zeit des Chaos und der Katastrophen. Das ist eine Idee, aus dem sich auch Vogeler bediente.
Ein frühes Beispiel ist Vogelers Radierung »Die Geburt des neuen Menschen« von 1918 nach der Offenbarung des Johannes zeigt über dem Trümmerfeld des Krieges die kristallischen Prismen, die sowohl den Zorn der sieben Engel als auch das Aufragen der neuen Kristallformen über dem Chaos veranschaulichen.
Das Kristallnest „bildet das perfekteste Beispiel und das sinnfälligste Symbol für eine Gemeinschaft, in der sich alle Teile zu einem Prozeß der gegenseitigen Hilfe und Stütze vereinigt haben; das einzelne Kristall ist folglich auch das anschaulichste Beispiel und das prägnanteste Symbol für das Einssein des einzelnen mit dem Gesetz werktätiger Liebe.“ (STENZIG 1989, S. 138 f.)
Ein weiteres Beispiel dafür ist auch die Zeichnung für die Broschüre „Kosmisches Werden und menschliche Erfüllung“ von 1921: Die Harmonie zwischen Mensch und Natur würde durch die „schöpferische Tat“ des Menschen als letzte Stufe in der „Entwicklung des kosmischen Geschehens“ hergestellt werden. (VOGELER 1921b, z.B. S. 86, 89 f).
Das war der Anfang von Vogelers Beschäftigung mit dem kristallinen Muster, das er in Abkehr der früheren in floraler Ornamentik gehaltenen Werken und trotzdem im steten Bemühen um eine Verbindung mit natürlichen Formen weiter entfaltete.
1921 entstand die Radierung »Werden«, bei dem es noch florale und runde Formen gibt, der ganze Bildaufbau wurde aus mehreren Ebenen zusammengefügt, die sich teilweise überlagern.
Mit dieser Technik schuf er auch das Gemälde »Die Geburt des neuen Menschen«, zu dem ihm die Geburt des Sohnes Jan am 9. Oktober 1923 in Moskau anregte: Sonja ist als schlanke Frauenfigur mit dem Kind auf dem Arm abgebildet. Sie steht auf den Trümmern der alten Gesellschaft, symbolisiert durch Totenköpfe, und ragt von dort inmitten des Roten Platzes vor der Basilius-Kathedrale, im Zentrum Moskaus, in die Neue Welt empor.
Vogeler zeigte die Welt in kleine Einzelszenen zersplittert, die in Beziehung zueinander gesetzt wurden. Diese Beziehung herzustellen erreichte er dadurch, dass mit einer oder mehreren groß angelegten Strukturen und den dadurch vorgegebenen geometrischen Segmenten die Bildfläche sowohl aufgeteilt als auch zusammengehalten wird. Dazu kommen die leuchtenden Farben, die bestimmte Elemente hervorheben.
Vogeler entwickelte so eine Art Montagetechnik, die es ihm ermöglichte, kleine Einzelszenen zu einem Gesamtbild, einer Geschichte zusammenzufügen. Vogeler konnte damit viele seiner Zeichnungen in den großen Bildern neu und in unterschiedlichen Perspektiven von kleinen Szenen bis zu großen Portraits neu anordnen.
Der kristallartige Aufbau dieser Bilder weist oft ein bildübergreifendes Symbol wie Hammer und Sichel, ein Banner oder einen Stern auf, beispielhaft 1923 in dem Ölbild »Die Rote Metropole – Demonstration 1.Mai«: Ein großer gelber Stern steht über der Stadt, seine Strahlen bescheinen einzelne Segmente des Bildes. Die Stadt türmt sich dem Stern entgegen, gekrönt von einer kleinen roten Fahne, unten quert ein großer Demonstrationszug eine Brücke und kommt, links unten beleuchtet von einem Strahl, dem Betrachter entgegen.
Sein bekanntestes Bild aus dieser Zeit ist der »Hamburger Werftarbeiter«, 1928 gemalt als Erinnerung an den Hamburger Aufstand, bei dem Matrosen und Werftarbeiter – wie auch bei der Novemberrevolution 1918 – eine herausragende Rolle gespielt hatten. In den einzelnen Segmenten des Bildes, in dessen Vordergrund ein junger Werftarbeiter steht, sind unterschiedliche Seiten aus dem Leben des Proletariats abgebildet. Der Arbeiter sieht selbstbewusst in die Zukunft, ohne in eine heroische Pose gegossen zu sein. Im Hintergrund sitzen die Pfeffersäcke noch in der Sonne, doch ein Demonstrationszug mit Roten Fahnen wird sie bald erreichen….
Laut Hans Liebau, der 1962 eine als Buch veröffentlichte Dissertation über Vogelers Fresken und Komplexbilder schrieb, versuchte Vogeler, der materialistischen Dialektik entsprechend, in seinen Komplexgemälden durch die Wiedergabe verschiedener wichtiger Seiten eines gesellschaftlichen Problems auf charakteristische Wechselbeziehungen, innere Zusammenhänge und Bedingtheiten hinzuweisen.
Vogeler schuf eine ganze Reihe von Komplexbildern, vor allem über seine Reisen in der Sowjetunion.
Im Bild »Baku« von 1927 ist die komplexe Montagetechnik mit der kristallinen Form als prägendes Gestaltungselement am deutlichsten durchgeführt. Der Stand des Aufbaus in der Sowjetunion wird sichtbar unter dem Zeichen von Hammer und Sichel, Schiffe, Industrieanlagen, Bohrtürme, Szenen aus Laboren Schulen und Bibliotheken werden zu einem Panorama zusammengefügt.
Später nutzte Vogeler diese Bilder bei seinen Vorträgen, die er für Aktivist_innen der Roten Hilfe und in anderen Bildungseinrichtungen der Arbeiter_innenbewegung hielt. Ein Zeitgenosse erinnert sich, dass ihn die Fülle der Details, die da aneinandergepresst waren, verwirrte. Kurze Zeitspäter aber erfüllten sich diese Bilder mit Leben durch die Worte des Malers…
Er hielt Vorträge zur Arbeit der Roten Hilfe unter dem faschistischen Terror, der Revolution und dem Aufbau der jungen Sowjetunion in Zentralasien, dem Rote-Hilfe-Kinderheim Barkenhoff, der MOPR, und anderen. Ab 1927 waren in diesen Veranstaltungen meist nicht mehr die Komplexbilder selbst zu sehen, sondern bis drei Meter hohe Projektionen von Negativ-Dias, die er selbst von Hand koloriert hatte.
RHD
Am 1. Oktober 1924 gründete sich die „Rote Hilfe Deutschlands“ (RHD)
Schon im April 1921 waren in der Folge der politischen Repression nach den Märzkämpfen (Mitteldeutscher Aufstand im Mansfelder Land) in Deutschland Rote-Hilfe-Komitees entstanden. Auf Beschluss der KPD wurde in Berlin zur Koordination ein Zentralkomitee gebildet. Seine Aufgabe war die juristische, moralische und materielle Unterstützung der inhaftierten oder untergetauchten Aufstandsteilnehmer sowie deren Familien. Ein Vorläufer war auch die Frauenhilfe in München, die nach der Niederschlagung der dortigen Räterepublik die Familien der Ermordeten und Gefangenen unterstützte.
Beim IV. Weltkongress der Komintern in Moskau im Herbst 1922 war die Bildung der Internationalen Roten Hilfe (IRH, russ. МОПР/MOPR) beschlossen worden und in der Folge entstanden in vielen Ländern Rote Hilfen.
Nach dem Hamburger Aufstand im Oktober 1923 wurden die KPD und ihr angeschlossene Organisationen, auch die bestehenden Rote-Hilfe-Komitees, verboten. Daraufhin erfolgte am 1. Oktober 1924 die Gründung einer formal parteiunabhängigen Mitgliederorganisation: die Rote Hilfe Deutschland.
Heinrich Vogeler beteiligte sich am Gründungskomitee der RHD, gemeinsam mit Clara Zetkin und Wilhelm Pieck, und arbeitete mit im Zentralvorstand. Im selben Jahr trat Vogeler auch der KPD bei. Mit dem Schritt auf die Seite des Kommunismus verblasste sein großes Ansehen schnell auf dem „freien Kunstmarkt“.
Kinderheime für die Familien der Opfer politischer Verfolgung
Die Idee, Kinderheime für die Familien der Opfer politischer Verfolgung zu errichten, entstand schon sehr früh. Schon beim Spartakusaufstand 1919 in Berlin kamen zahlreiche Frauen mit ihren Kindern in Existenznot, weil viele revolutionäre Arbeiter gefallen oder inhaftiert waren. Doch nicht nur infolge von Arbeiter_innenaufständen wurden Frauen zu Witwen und Kinder zu Waisen gemacht. Da in einer Arbeiterfamilie zu dieser Zeit mehrere Kinder lebten und die Lebensbedingungen aufgrund der fortschreitenden Verelendung der arbeitenden Bevölkerung immer schlechter wurden, herrschten für die Familien von Inhaftierten oder ermordeten Arbeiter_innen elende Bedingungen.
An dieser Stelle sei stellvertretend ein Bericht zitiert, der von der RHD aufgenommen wurde. Die Rote Hilfe sammelte Berichte dieser Art und veröffentlichte diese auch in ihren Broschüren: »Wie mein Vater erschossen wurde. Ich bin aus München. Mit meiner Mutter sind wir zu Haus vier Personen. Mein Vater ist schon fünf Jahre tot. Es geht uns nicht gut. Oft müssen wir zu Mittag schwarzen Kaffee trinken, sonst bekommen wir gar nichts, sonst müssen wir verhungern. Mein Vater haben Weißgardisten erschossen. Das kam so: Er hatte gerade Kaffee getrunken, da kam mein Onkel und sagte: Nun komm, wir müssen endlich gehen. Bleib doch da, sagte meine Mutter, sonst kommst Du nicht wieder. Mein Vater ging aber doch fort und sagte: Ich komme schon wieder nach Hause. Er ist aber nimmer wieder gekommen. Die Weißgardisten haben ihn gefangen und gefesselt. Dann haben sie gleich auf ihn geschossen. Auch meinen Onkel haben sie erschossen. Sie haben Vater und Onkel auch die Uhren und Sachen fortgenommen.« Sophie Beringer, München (11 Jahre) [Broschüre der RHD: Helft den Kindern von 1925]
Staatliche Hilfe hatten die Angehörigen politisch verfolgter Personen nicht zu erwarten, obwohl es in der Weimarer Republik gesetzliche Grundlagen für die Unterstützung von Witwen und Waisen gab. In der Regel wurden Anträge auf materielle Hilfe von den Behörden mit der Begründung abgelehnt, der Betroffene habe seinen Tod oder seine Verhaftung »selbst verschuldet«.
Belastend war für die Kinder in Familien politisch Verfolgter auch der psychische Terror, dem sie durch immer wieder stattfindende behördliche Eingriffe ausgesetzt waren. Frau Giffey, die Tochter von Fiete Schulz, der 1923 maßgeblich an der Organisation und Durchführung des Hamburger Aufstandes beteiligt war, erzählte, dass es oft Hausdurchsuchungen gab. Die Sicherheitspolizei suchte ihren untergetauchten Vater. »Die Polizei hat unsere Einrichtung kaputtgeschlagen und die Betten aufgeschlitzt. Meine Mutter hat gezittert und geweint, und ich war wütend. Nachbarn haben dann geholfen, die Wohnung wieder in Ordnung zu bringen. (..) immer wieder hat die Polizei mir vor der Schule aufgelauert, immer wollten sie wissen, wo mein Vater war. Mal haben sie mich geschlagen, mal haben sie mir Schokolade gegeben. Aber ich habe nichts erzählt.« [nach „70 / 20 Jahre Rote Hilfe“ Broschüre Rote Hilfe e.V. 1996]
Kinderheim Barkenhoff
Da die Arbeitsschule in eine nicht nur finanzielle Krise geraten war, griff Vogeler die Idee von Julian Marchlewski auf, den Barkenhoff, zu einem Heim für Kinder von politischen Gefangenen zu machen.
Am 23. Dezember 1924 unterzeichnete er in Berlin einen Kaufvertrag, mit dem der Barkenhoff in den Besitz der Roten Hilfe (Quieta Erholungsstätten Gesellschaft mit beschränkter Haftung) überging. Der Kaufpreis betrug 15.000 Goldmark (etwa 50.000 Euro), ein geringer Betrag für so ein Anwesen. Die Rote Hilfe bekam das nötige Geld für den Kauf des Barkenhoffs von amerikanischen Genoss_innen zugeschossen. Der Verkauf vollzog sich nicht reibungslos, da die übrig gebliebenen Kommunemitglieder_innen der Arbeitsschule gegen die vollständige Übernahme des Barkenhoffs durch die Rote Hilfe waren. Die Mitarbeiter_innen der Arbeitsschule hätten weiter nach den Prinzipien der Arbeitsschule gearbeitet und lieber eine feste Gruppe von Kindern gehabt, als die immer nur für eine begrenzte Zeit auf den Barkenhoff kommenden Gruppen. Dass der Barkenhoff letzten Endes vollständig an die Rote Hilfe ging, lag daran, dass die Arbeitsschule vor dem nicht nur finanziellen Aus stand. 1925 löste sich – in Vogelers Abwesenheit – der Verein Arbeitsschule auf.
Nach den Vorstellungen der RHD sollten sich fortan auf dem Barkenhoff „bedürftige Arbeiterkinder, deren Väter oder Mütter aus politischen Gründen im Gefängnis saßen oder in den politischen Kämpfen der frühen 20er Jahre gefallen waren, erholen [..] und eine sozialistische Erziehung erfahren“. Betreut von dem Pädagogen Ernst Behm kam im September 1923 die erste Gruppe von 18 Kindern für sechs Wochen auf den Barkenhoff. Neben einer politischen Erziehung hatten diese Kinder dort auch vielfältige Möglichkeiten zur praktischen Mitarbeit in den vorhandenen Werkstätten, dem Garten und in der Küche, und in Anlehnung an das russische Modell der Produktionsschule konnte Behm auch Ansätze einer Arbeitsschule praktizieren.
1925 wurde auch ein Haus in Elgersburg für das MOPR- Kinderheim durch die Rote Hilfe erworben.
In den beiden Heimen wurden während eines Jahres rund 500 Kinder- etwa je zur Hälfte Jungen und Mädchen – für jeweils acht bis zwölf Wochen untergebracht. Die betreuten Kinder kamen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, Bulgarien und anderen Ländern.
Neben diesen beiden Kinderheimen existierte zumindest 1925 noch ein Ferienheim der Roten Hilfe Westsachsens. Das am 20. Juli 1925 in Leipzig eröffnete Heim in Oetzsch-Gautzsch bot 25 Kindern politischer Gefangener vierwöchigen Aufenthalt.
Die MOPR hatte schon gute Erfahrungen in Sowjetrussland mit Kinderheimen gemacht. Diese Heime spielten später für Kinder der Verfolgten des Faschismus eine große Rolle.
In der Aufbauphase der Schule in Worpswede war dort auch Georg Jungclas tätig. Er und Behm verließen aber noch 1923 den Barkenhoff, Jungclas, um am Hamburger Aufstand teilzunehmen, Behm, um am Aufbau eines fortschrittlichen Schulsystems in Thüringen mitzuwirken. Dort wurde er allerdings aus politischen Gründen bald aus dem Schuldienst entfernt, und er kehrte 1924 auf den Barkenhoff zurück. Dort arbeitete inzwischen der Pädagoge Karl Ellrich, und mit diesem zusammen konnte Behm das Konzept des Arbeitsunterrichts weiter ausgestalten und kindgerechte Formen des politischen Theaters und der politischen Diskussion entwickeln.
Sowohl gegen ihn als Person als auch gegen die angebliche politische Beeinflussung der Kinder auf dem Barkenhoff wurde seitens der konservativen Presse schnell mobilgemacht, und der Landrat stellte die RHD vor die Alternative, entweder Behm zu entlassen oder die Einrichtung zu schließen. Um das Heim zu retten, verließ Behm im Februar 1925 nach Rücksprache mit Landtagsabgeordneten der KPD und Mitgliedern des Kuratoriums den Barkenhoff. Trotzdem hörten die behördlichen Schikanen nicht auf. Der Landrat ließ das Haus ständig durch Polizei überwachen. [nach „70 / 20 Jahre Rote Hilfe“ Broschüre Rote Hilfe e.V. 1996]
Alltag auf dem Barkenhoff
Der Alltag auf dem Barkenhoff gestaltete sich vielfältig. Die Kinder blieben für eine bestimmte Zeit auf dem Barkenhoff, meist in 40er Gruppen. Die Kinder kamen aus ganz Deutschland. Doch auch aus den anderen Ländern, in denen der Klassenterror wütete, kamen Kinder. 1927 kam u.a. eine Kindergruppe aus Wien, und 1930 eine Kindergruppe aus Litauen auf den Barkenhoff.
Die Hauptaufgabe bestand darin, den Kindern körperliche Erholung zusammen mit einer guten Ernährung zu gewährleisten, da die Kinder zuhause hungerten und oft krank waren. Daneben wurde Wert auf eine sozialistische Erziehung und Bildung gelegt. Das Risiko einer Schließung durch die Behörden, die ja auf der Lauer lagen und nach Gründen für eine Schließung des Kinderheimes suchten, musste dabei geringgehalten werden. Systematischer Unterricht konnte deshalb nur in der Anfangszeit des Arbeiterkinderheimes durchgeführt werden, da es Anschuldigungen der »politischen Indoktrination« gab.
Den Kindern wurde ein abwechslungsreiches Tagesprogramm geboten. Neben Basteln, Malen und Gartenbau standen auch Gesang und Theater auf dem Programm. Gesang und Theater wurden insbesondere für die zahlreichen Feste vorbereitet, die es auf dem Barkenhoff gab. Der Gedanke des Arbeitskollektivs spielte eine große Rolle bei der Erziehung der Kinder, so wurden notwendige Arbeiten zusammen in Kollektiven durchgeführt. Die Kinder wählten aus ihren eigenen Reihen einen Heimrat, der jederzeit wieder abgewählt werden konnte. Abends gab es gemeinschaftliche Gesprächsrunden und Spiele. Das Verhältnis zwischen Kindern, Erzieher_innen und Angestellten war ausgesprochen freundschaftlich und solidarisch. Einen Kommandoton, wie in den bürgerlichen Kinderheimen, gab es auf dem Barkenhoff nicht. Es wurden auch gemeinsame Exkursionen zu Bauernhöfen und Fabriken durchgeführt, um die verschiedenen Produktionstechniken im Vergleich durch Anschauung zu erleben. In Gesprächen mit Bremer Arbeiter_innen sollten die Kinder die modernen Produktionstechniken kennenlernen, aber auch die ähnliche Situation von Arbeiter_innen in einer für sie fremden Umgebung erleben. Außerdem wurden gute Kontakte mit den Kindern der Jungspartakisten bzw. mit dem Jungspartakusbund gepflegt. Der Jungspartakusbund übernahm viele Patenschaften für Kindergruppen und es wurden gemeinsam Feste durchgeführt. Ziel war es, den Kindern über den kurzen Aufenthalt hinaus eine politische Perspektive für den Kampf um eine bessere Gesellschaft zu eröffnen. Viele Kinder schlossen sich aufgrund der positiven Erlebnisse den Jungspartakisten nach der Rückkehr in ihren Heimatort an. [nach „70 / 20 Jahre Rote Hilfe“ Broschüre Rote Hilfe e.V. 1996]
Barkenhofflied
1926 wurde in der Zeitschrift für Arbeiterkinder „Die Trommel“ das Barkenhofflied veröffentlicht, dessen Text und Musik von Helmut Schinkel stammt. Es ist ein Gute-Nacht-Lied, in dem die Kinder ihren in der Ferne arbeitenden Müttern und inhaftierten Vätern eine gute Nacht wünschen und auf die über Nacht wachsende Freiheit hoffen.
Barkenhofflied
hier gesungen von „Die Grenzgänger“: https://www.youtube.com/watch?v=JPxf6imPE60
Auf der CD: Die Grenzgänger – Revolution EAN 4250137277240
hier von einem Kinderchor (historisch bebildert): https://www.youtube.com/watch?v=JlbodYpzKkA
Hinterm Weyerberg scheint der Mond hervor
und der Nebel steigt aus dem Teufelsmoor
Wieder ist ein Tag vollbracht
und nun heisst es Gute Nacht
Gute Nacht
Mütterlein zu Hause, vier Treppen hoch
an der Nähmaschine sitzt sie noch
Hat an mich den ganzen Tag gedacht
Mütterlein, jetzt Gute Nacht
Gute Nacht
Hinter Mauern und Eisengitter schwer
geht ein Vater ruhlos hin und her
Und er denkt, was wohl sein Kindchen macht
und er wünscht ihm eine Gute Nacht
Gute Nacht
Doch die Arbeit, die hat niemals Ruh
und die Hämmer dröhnen immerzu
in Fabrik, in Werk und Schacht
wächst die Freiheit über Nacht!
über Nacht
Kriminalisierung
In den 1920er Jahren kam es immer wieder zu Kriminalisierungsversuchen der Behörden gegen das Kinderheim. Aus diesem Grund wurde im Frühjahr 1926 ein Kuratorium zum Erhalt des Barkenhoffs und des MOPR-Heimes gegründet. Diesem Kuratorium gehörten zahlreiche Personen aus dem öffentlichen Leben an. So waren z.B. Albert Einstein, Magnus Hirschfeld, Thomas und Heinrich Mann und Paul Oestreich Mitglieder des Kuratoriums zum Erhalt der Kinderheime der Roten Hilfe. Durch Rote-Hilfe-Tage, die auf dem Barkenhoff durchgeführt wurden, sowie durch den Besuch von Prominenten, z.B. Henri Barbusse, wurde die Popularität des Barkenhoffs gesteigert, so dass durch die Arbeiterkinderheime auch die Rote Hilfe bekannter wurde. Die Kinderheime hatten somit für die proletarische Selbsthilfe einen Wert, der über die Erholungsmöglichkeit der Kinder hinausging. Für die Kinderheime bestand eine breite, klassenübergreifende Solidarität, wie das Kuratorium bewies.
„Aufruf an die deutschen Künstler“
Republikweit Aufsehen erregte Vogeler in künstlerischen und intellektuellen Kreisen 1927 mit seinem „Aufruf an die deutschen Künstler“ zur Verteidigung seiner Wandmalereien im Worpsweder Barkenhoff.
Vogeler schrieb den Hilfsappell, nachdem lokale Behörden gegen die Fresken im Barkenhoff vorgehen wollten. Das RHD-Kinderheim war ihnen ein Dorn im Auge, es galt als Hort staatsfeindlicher Gesinnung. Die Wandmalereien Heinrich Vogelers würden angeblich zur politischen Indoktrination der Kinder führen.
Bereits im Jahr der Vollendung, 1926, erregte der Zyklus aufgrund seines politischen Gehalts massiven Widerstand im zuständigen Landratsamt und beim Regierungspräsidenten: schriftlich und mündlich forderten sie die Heimleiterin zur Entfernung der Fresken auf. Laut der Publikation „Polizeiterror gegen Kind und Kunst“ versuchte der Regierungspräsident, die Entfernung der Bilder auch mithilfe massiver Druckmittel zu erreichen: Nur, wenn die Bilder entfernt würden, könnten der Roten Hilfe wieder Fahrpreisermäßigungen für die Transporte der Kinder gewährt werden. Die Forderung, die Bilder zu übermalen, wurde selbst von der damaligen bürgerlichen Presse kritisiert.
Am 18. Januar 1927 war der Bildersturm auf dem Barkenhoff Thema einer Sitzung des Preußischen Landtages. Willhelm Pieck verurteilte in einer Rede den Bildersturm und stellte ihn als Angriff gegen die Rote Hilfe heraus.
Die Forderung nach der Entfernung der Fresken rief im Jahr 1927 unter Künstler_innen starken Protest und Solidarisierung mit Vogeler und dem Kinderheim hervor. Bis in den Herbst 1927 hinein beschäftigte diese Auseinandersetzung die Behörden in Osterholz, Stade und Berlin.
Von Meta Kraus-Fessel, ebenfalls Mitbegründerin der Roten Hilfe und Mitarbeiterin von Magnus Hirschfeld, wurde die Dokumentation „Polizei-Terror gegen Kind und Kunst: Dokumente zur Geschichte der sozialen Republik Deutschlands“ dazu herausgegeben.
Persönlichkeiten wie Albert Einstein, Käthe Kollwitz, Kurt Tucholsky, Heinrich Zille, Thomas Mann, Eduard Fuchs, Lion Feuchtwanger, Max Pechstein oder Herrmann Hesse solidarisierten sich mit Vogeler und konnten zumindest einen Kompromiss erringen: Teile der Malerei wurden durch abschließbare Wachstuchrollos verdeckt. Ganz zerstört wurden sie dann von den Faschisten.
Reisen in die Sowjetunion
Von Ende Juni bis September 1925 und in den folgenden Jahren reiste Vogeler im Auftrag der Roten Hilfe des Öfteren in die Sowjetunion, um dort den Aufbau zu dokumentieren. Eine weitere Reise nach Moskau folgte im November, um den Kongress der Roten Hilfe vorzubereiten. Weitere Reisen führten in die Provinzen von Turkestan bis Samarkand und Baku, von Karelien und Taschkent bis Aserbaidschan und Murmansk, wobei er hunderte von Zeichnungen fertigte.
Seine russischen Reiseberichte aus dem Jahr 1925 waren geprägt von Optimismus: „Wie viel schöner und ruhiger sind hier die Menschen, denen man ins Antlitz sieht, im Vergleich zu den Menschen des Westens. […] Freie Menschen, die das Schlimmste getragen haben, um ihren Kindern den Zukunftsweg zu sichern.”
Es entstand eine Vielzahl von Bildern mit Motiven aus dem Leben der Roten Hilfe sowie über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion. Diese Bilder wurden für zur Illustration von Zeitschriften der Roten Hilfe und der KPD, als Motive von Beitragsmarken, Postkarten und Plakaten sowie zum Verkauf auf Solidaritätsbasaren verwendet. Im Frühjahr 1924 veranstaltete die sowjetische Rote Hilfe in Moskau eine Ausstellung mit Bildern Vogelers, deren Erlös dem Kinderheim Barkenhoff zufloss.
Seit 1925 bot ihm eine kleine Atelierwohnung in Berlin-Lichterfelde eine erste vorübergehende Unterkunft zwischen ersten ausgedehnteren Reisen nach Moskau. Vogelers Berliner Jahre waren eine entscheidende Phase seiner Hinwendung zum Marxismus, verbunden mit einem vielfältigen Engagement für die Arbeiterbewegung. Aber richtig Fuß fasste Vogeler in der Hauptstadt nicht.
Mieke Vogeler und Gustav Regler
Die 1901geborene Marie Luise Vogeler, genannt Mieke, war die älteste Tochter von Heinrich und Martha Vogeler. Sie wurde Goldschmiedin und hatte ein breit gefächertes Interesse an Kunst und Kultur genauso wie an Politik. Sie teilte die Ansichten ihres Vaters weitgehend und arbeitete immer wieder mit ihm zusammen, so auch bei dem Malen der Fresken im Barkenhoff. Ansonsten lebte Mieke mit ihrer Mutter Martha und den Schwestern im Haus „im Schluh“.
1925 war sie mit beiden Eltern Gründungsmitglied der „Wirtschaftlichen Vereinigung Worpsweder Künstler“, 1927 war sie nach der Scheidung der Eltern bei Heinrich in Berlin, wo sie mit ihm Berliner Werbe- und Architektenbüro „Die Kugel“ zusammenarbeitete und sich auch mit um ihren Halbbruder Jan kümmerte.
1928 lernte sie den Schriftsteller Gustav Regler bei einem seiner Besuche in Worpswede kennen. Von da an lebten sie zusammen, reisten viel und ihre Wege waren verbunden mit denen Heinrich Vogelers, zum Beispiel waren alle gemeinsam im Tessin, in Fontana Martina, wo Mieke ihren Vater Heinrich und dessen zweite Frau Sonja wiedersah.
1929 übersiedelten beide nach Berlin, in den „Roten Block“ am Laubenheimer Platz, einen Wohnbezirk linker Künstler, im gleichen Jahr trat Gustav Regler von Mieke beeinflusst der KPD bei.
Ein weiteres Mal traf Mieke ihren Vater 1931 in Moskau, wohin sie Regler für einige Monate begleitete und dort Russisch lernte. 1935 begleitete sie ihren Vater bei einem Erholungsaufenthalt im Kaukasus, danach zog sie mit Gustav Regler in die gemeinsame Wohnung in Paris, wo in diesem Jahr auch der I. Internationale Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur stattfand.
Nach dem Reichstagsbrand 1933 flohen beide über Worpswede und das Saarland nach Paris.
1936 beschloss Regler sich den „Internationalen Brigaden“ in Spanien anzuschließen, er wurde Politischer Kommissar der XII. Brigade. Nachdem Mieke 1937 von seiner schweren Verwundung erfahren hatte, schlug sie sich nach Spanien durch und pflegte ihn und andere Verletzte gesund. 1938 reisten beide durch die USA um Spenden für die Republik zu sammeln und blieben eine Weile bei Pauline und Ernest Hemingway, den Regler im Spanienkrieg kennen gelernt hatte. Zurück in Frankreich wurde Regler nach Kriegsbeginn verhaftet und in „le Vernet“ interniert. Mieke kämpfte monatelang für seine Freilassung. Danach flohen sie zurück in die USA, wo sie 1940 in New York heirateten, dann ging es weiter nach Mexiko, ihrer neuen Heimat. Der Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes 1939 führte zum Bruch Reglers mit der Partei und 1942 zum Austritt.
1942 wurde bei Mieke Krebs diagnostiziert, drei Jahre später starb sie daran.
Berlin
Im Mai 1927 bezog die Familie eine Wohnung in der von Bruno Taut neu erbauten Hufeisensiedlung in Berlin-Britz. „Kirgisische Steppe“ – so bezeichnete Sonja Marchlewska den Garten des Reihenhauses in ihren Lebenserinnerungen. Zur anfänglichen Freude über den Umzug nach Britz mischten sich bald erste Missstimmungen. Sonja Marchlewska berichtete von spießigen Nachbarn mit „blühenden Rabatten“. Einige von ihnen hätten feindlich auf die kommunistische Gesinnung des Paares reagiert und die Nase über deren sandiges, baumbewachsenes Grundstück gerümpft.
Dabei lebten in der Siedlung auch andere Kommunist_innen, Sozialdemokrat_innen oder Anarchist_innen wie Erich Mühsam.
Mit seiner politischen Kunst konnte der Maler nicht an die früheren Erfolge anknüpfen. Vogeler nahm in Berlin lediglich an einer Handvoll Ausstellungen teil: darunter 1925 im Karl-Liebknecht-Haus, 1927 im Landesausstellungsgebäude am Lehrter Bahnhof sowie im Gartensaal der Kindl-Brauerei. Die Vogelers trafen zwar auch Käthe Kollwitz, Erwin Piscator, George Grosz, Otto Dix und Heinrich Zille, intensivere Kontakte zu anderen Künstler_innen kamen aber nicht zustande. Zahlreiche Reisen für die Rote Hilfe ließen ihm auch wenig Zeit für die Kunst und für seine Familie.
Kontakte ergaben sich eher auf politischer Ebene: So engagierte sich Vogeler im Reichsverband Bildender Künstler Deutschlands (RBKD), der unter anderem Künstler in wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten unterstützte. Auch Max Pechstein oder Bruno Taut waren hier Mitglieder. Innerhalb des Verbandes schuf Vogeler gemeinsam mit dem Maler Franz Edwin Gehrig-Targis eine kommunistische Fraktion, aus der schließlich 1928 die „Assoziation revolutionärer bildender Künstler Deutschlands“, abgekürzt ARBKD oder ASSO, hervorging.
Die ASSO bezweckte laut den Statuten: „den Zusammenschluß aller revolutionären bildenden Künstler, die auf dem Boden des proletarischen Klassenkampfes stehen. Durch diesen Zusammenschluß sammelt die [… ASSO] die auf dem Boden des Klassenkampfes stehenden zerstreuten Kräfte in einer zielbewußten zentralisierten Organisation. Im Gegensatz zu den nur auf Stilrichtungen und der Phrase l’art pour l’art aufgebauten Kunstverbänden will die [… ASSO] den Klassenkampf fördern, stilistisch wie inhaltlich den Bedürfnissen der Arbeiterschaft angepaßt.“ [zitiert nach: Heinrich Vogeler. Kunstwerke, Gebrauchsgegenstände, Dokumente, Ausst. Kat. Berlin/Hamburg 1983, S. 215]
Vogelers Leben blieb geprägt von finanziellen Sorgen. Um den Verkauf seiner Bilder zu fördern, schloss er sich mit anderen Worpsweder Künstlern wie dem Bildhauer Bernhard Hoetger, Otto Modersohn, Martha und Tochter Mieke Vogeler sowie seiner Schwägerin Philine als Galeristin zur “Wirtschaftlichen Vereinigung Worpsweder Künstler” zusammen.
1928 arbeitet er mit in der deutschen Kunstgemeinschaft beim sogenannten Kunstabonnement mit. Die Möglichkeit des Erwerbs originaler Kunstwerke auf Raten sollte eine haltbare Verbindung zwischen Künstler_innen und Menschen schaffen, die sich solcherlei sonst nicht leisten konnten. Im Katalog stellte sich Vogeler mit folgenden Worten vor: „Vom individualistischen Romantiker durch Krieg und Erkenntnis zum sozialistischen Kämpfer, zum Kommunisten. Vom Liebling der Bourgeoisie mit glänzender wirtschaftlicher Lage – bis zur völligen Sabotage und wirtschaftlicher Not durch die Bourgeoisie, deren Interessen durch eine proletarische Kunst geschädigt wird.“ Später in der Deutschen Demokratischen Republik wird diese Idee in ähnlicher Weise wiederaufgenommen werden.
Ab Oktober 1927 bis 1929, dem Jahr der Weltwirtschaftskrise, arbeitete Vogeler im Berliner Werbe- und Architektenbüro „Die Kugel“ des späteren Widerstandskämpfers Herbert Richter, wo er Reklameplakate gestaltete, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. „Morgens 8 Uhr aus dem Haus. 10–12 Uhr abends zurück“, so erinnerte sich Vogeler. Er stelle aufwändige Dioramen her, Schaukästen mit Modellfiguren und -landschaften – etwa eines für „Kaisers-Kaffee-Geschäft“, das den gesamten Produktionsprozess des Kaffees illustrierte. Aber der Verdienst in dem Büro war eher gering. Auch die wenigen Bilder ohne politische Botschaft, die in dieser Zeit entstanden, ließen sich nicht verkaufen. Werbe- und Grafikaufträge der Roten Hilfe waren nicht besonders einträglich.
Ein Beispiel aus dieser Zeit und ein frühes Zeugnis seiner antifaschistischen Arbeit ist das Bild: „Der weiße Terror geht über die ganze Welt“ von 1926. Er selbst schrieb dazu: „Im Jahre 1926, während meiner Arbeit für die MOPR, malte ich den Komplex des weißen Terrors. Inmitten des Bildes steht der Totenkopf Karls Liebknechts, groß, drohend über einem Café, in dem Hakenkreuzler und Stahlhelmleute am Tisch sitzen und auf eine von der Polizei zusammengehauene Demonstration herabblicken. Dann geht der Terror über Bulgarien, Rumänien, Polen, Frankreich, Indien, Amerika und schließt mit einer Szene im deutschen Klassengericht. Das Ganze ist so komponiert, daß man unten in eine Gefängniszelle sieht, in der ein politischer Gefangener steht, der in Gedanken an den Kampf und die Leiden seiner Genossen auf der ganzen Welt Kraft sammelt zu neuer revolutionärer Tat.“ [Werden. Erinnerungen. Mit Lebenszeugnissen aus den Jahren 1923–1942, hrsg. von Joachim Priewe und Paul-Gerhard Wenzlaff, Fischerhude 1989S. 331/332] Das Bild ist eine Anklage der reaktionären Gewalt: „ROT / FRONT / gegen / Weissen Terror!“ steht in der linken unteren Ecke, rechts „Secourez les victimes de la lutte de la classe“ (dt.: „Rettet die Opfer des Klassenkampfes“). Ein weiterer Schriftzug ist seitenverkehrt, das heißt entgegengesetzt (verkehrt) dem Bildsinn eingefügt, nämlich „CAFFE VATERLAND“. Dort feiert sich die Bourgeoisie. Sie feiert zwischen dem Gefangenen und dem Toten (Liebknecht).
Bruch mit der KPD
Mittlerweile war es zu heftigen Auseinandersetzungen in der Kommunistischen Internationale und der KPD um deren weiteren politischen Kurs gekommen, wobei es auch zu zahlreichen Parteiausschlüssen kam. Die Entwicklung der Sozialfaschismustheorie gegenüber der Politik der SPD und zum Beispiel der Gründung der “Revolutionären Gewerkschaftsorganisation” im Jahr 1929 beendete die Zusammenarbeit mit den sozialdemokratisch orientierten Teilen der Arbeiter_innenbewegung. Dagegen stand der Flügel der Partei, der angesichts der faschistischen Gefahr für eine Einheitsfront aller linken Kräfte eintrat, um den ehemaligen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler. Auch Heinrich Vogeler hielt die Doktrin der KPD, die Sozialdemokraten noch vor den Nazis zu bekämpfen, für falsch und warnte davor, dem wirklichen Gegner des Friedens und der Freiheit in die Hände zu arbeiten. Andererseits sah er deutlich, wie wenig sich auch die SPD auf die Abwendung der faschistischen Machtergreifung konzentrierte und ebenfalls nicht bereit war, auf parteipolitische Frontstellungen und taktische Erwägungen zu verzichten. Der »Bruderzwist« paralysierte die Abwehrkräfte gegen das Bündnis von »Hakenkreuz und Stahlhelm«.
Denn auch die Führung der SPD lehnte eine Zusammenarbeit, auch mit der RHD – grundsätzlich ab. Die Unvereinbarkeitsbeschlüsse der SPD bewirkten, dass sich zwar viele Sozialdemokrat_innen an Aktionen der RHD beteiligten, jedoch nur wenige der Organisation beitraten, denn für sozialdemokratische und gewerkschaftliche Unterstützer_innen konnte dies den Ausschluss aus der SPD bedeuten.
Der Linienstreit in der KPD hatte gravierende Auswirkungen auf die RHD, die ja als strömungsübergreifende Organisation gegründet worden war. Zahlreiche Genoss_innen traten aus der Roten Hilfe aus oder wurden ausgeschlossen. Vogeler protestierte nachdrücklich, unter anderem gegen den Ausschluss von Walter Schlör, denn ohne Zustimmung der Mitglieder der RHD wurden Funktionäre der zentralen Leitung und von Bezirksleitungen, die zuvor aus der KPD ausgeschlossen worden waren, auf Druck des ZK der KPD zum Austritt aus der RHD gedrängt. So z.B. auch der Generalsekretär des Zentralvorstands Jacob Schlör und das Ehepaar Ehlers, die Vogelers Nachbarn in Berlin waren. Ella Ehlers hatte als Wirtschaftsleiterin und Erzieherin seit 1926 auf dem Barkenhoff gearbeitet.
Sie alle hatten den neuen Kurs der KPD nicht mittragen wollen. Im Zusammenhang mit dieser Kursänderung kam es zu weiteren Ausschlüssen und Austritten, durch die die RHD ungefähr 9000 Mitglieder verlor.
Für Heinrich Vogeler war die strömungsübergreifende Ausrichtung unverzichtbar. Die Konfrontation mit der KPD – Führung folgte aus dem 3. Reichskongress der RHD am 13. Und 14. Oktober 1929, wo Vogeler als Mitglied des Zentralvorstandes folgenden Entschließungsantrag einbrachte mit dem ´Ziel der „Wiederherstellung der Einheitlichkeit und Überparteilichkeit der RHD“ durch „die Wiederaufnahme der ausgeschlossenen und gemaßregelten Genossen wie auch ihre Einsetzung in die bisherigen Funktionen ohne Rücksicht auf die Parteizugehörigkeit.“
Clara Zetkin als Vorsitzende der Internationalen RH unterstütze Vogeler in seiner Haltung, aber Wilhelm Pieck als Vorsitzender der RH Deutschland polemisierte gegen Vogeler als „Verräter“ und „Feind der Roten Hilfe“.
Heinrich Vogeler wurde schon im Januar 1929 aus der KPD und im Oktober 1929 auch aus dem Zentralvorstand der Roten Hilfe ausgeschlossen. Eine Reihe von Freunden und Kollegen wandten sich von ihm ab. Er werde mit „Dreckkübeln“ beworfen, schrieb Vogeler.
Er blieb organisiert, ab da in der KPD(Opposition), und arbeitete am Aufbau einer neuen weiterhin ausdrücklich überparteilichen Hilfsorganisation, dem Internationalen Hilfsverein (IHV). Über dessen Ausrichtung und den Zweck der Wiedereingliederung in die RH schrieb er: „Ich werde meiner Pflicht der Roten Hilfe gegenüber weiter nachkommen, indem ich mithelfe, die vielen Tausende von Werktätigen und sympathisierenden Intellektuellen, die durch die irrsinnigen Spaltungsmaßnahmen des Zentralvorstandes der RHD von der Roten Hilfe abgesplittert wurden, im „Hilfsverein für die Angehörigen politischer Gefangener“ zu sammeln, um sie der Roten Hilfe zu einem späteren Zeitpunkt wieder zuführen zu können, wo an ihrer Spitze Leute stehen werden, die verstehen, dass eine Organisation wie die Rote Hilfe ohne Rücksicht auf das Bekenntnis zu dieser oder jener „Linie“ alles umfassen muss, was bereit ist, den Opfern des revolutionären Klassenkampfes zu helfen.“ Zu seiner allgemeinen Haltung bemerkte er: „Der feste Glaube an das Werk Lenins und an seine Auffassung über die Notwendigkeit der Einheitsfront des Proletariats zum Kampf für seine Klassenziele und zur Durchsetzung der siegreichen Revolution brachte mich in die Opposition gegen die Abenteurerpolitik und gegen die revolutionäre Phraseologie der heutigen Führung der KPD.“ [zitiert nach R. Hoja, Heinrich Vogeler: Boheme & Sozialist, 2012, S.143]
Private Krise und Aufenthalt in der Schweiz
Neben die politische trat zusätzlich noch eine private Krise. Sonja Marchlewska hatte eine Liebesbeziehung zu einem gemeinsamen Freund, dem Grafiker Carl Meffert (d.i. Clément Moreau) begonnen. „Alles in mir sträubt sich, in das Haus zurückzukehren“, schrieb er. Zur Ablenkung stürzte er sich in seine Arbeit im Architekturbüro. Hier begann er eine Beziehung mit seiner Kollegin Ursula Dehmel. 1929 lebte Vogeler einige Monate bei ihr im Grunewald. Mit Sohn Jan besuchte er im Winter 1928 das Tessiner Bergdorf Ronco bei Ascona, in dem sein Freund, der kommunistische Schweizer Buchdrucker Fritz Jordi, in dem Dorf Fontana Martina eine Siedlung nach dem Vorbild des Barkenhoff plante. Im Herbst 1921 hatte Jordi ein paar Wochen in der freien Arbeitsschule verbracht und war von Vogelers Schrift „Die Arbeitsschule als Aufbauzelle der klassenlosen menschlichen Gesellschaft“ stark beeindruckt.
Fritz Jordi hatte ab 1917 das Bieler «Arbeiter-Blatt» herausgegeben und radikalisierte die Jugendbewegung der Stadt. Enttäuscht von den Entwicklungen in der Arbeiterbewegung, zog er sich Mitte der 20er-Jahre ins Tessin zurück, wo er das verfallene Dorf Fontana Martina am Lago Maggiore kaufte.
Vogeler, Carl Meffert und Jordi gründeten eine sich selbst versorgende Künstlergenossenschaft, in der auch Arbeitslose und politisch Verfolgte Aufnahme fanden. Auch Mieke und Gustav Regler waren zeitweise dort, wie viele weitere Intellektuelle und Künstler_innen. Zwischen Oktober 1931 und November 1932 erschien in Ronco/Ascona die gemeinsam herausgegebene antifaschistische Halbmonatszeitschrift Fontana Martina. Da die Zeitschrift unmittelbar am Setzkasten verfasst wurde, gab es immer die Gelegenheit Grafiken einzubauen, neben denen von Meffert auch von Helen Ernst und anderen.
Jordi wollte an das Barkenhoff-Experiment von 1920-1924 anknüpfen. Neben einer Handweberei gab es eine Setzerei und eine Handpresse, auf der die Zeitschrift in winziger Auflage gedruckt wurde. Sie wandte sich an einen kleinen Teil von Freund_innen, Gesinnungsgenoss_innen und Sympathisant_innen. Das Dorf entwickelte sich zu einem Stützpunkt, von dem aus sozialistische Künstler_innen und Schriftsteller_innen Widerstand gegen den deutschen wie den italienischen Faschismus leisteten.
“Es sollte eine Erholungsstätte werden für Menschen, die im politischen Kampf standen, verfolgt wurden und für kurze Zeit der Ruhe in einem abgeschiedenen Erdenwinkel bedurften. Vielleicht konnten sich auch Gesinnungsgenossen aus anderen Ländern treffen, Erfahrungen austauschen und Kraft schöpfen aus lebendiger Gemeinsamkeit.” [Vogeler Erinnerungen, S. 344]
Das Ende der Kinderheime
Die Auseinandersetzungen in der Roten Hilfe Deutschland wirkten sich auch auf den Betrieb der beiden Kinderheime, dem Barkenhoff und Elgersburg, aus.
Wie die Auseinandersetzungen um den Barkenhoff war auch die Einrichtung und Eröffnung des Kindererholungsheimes Elgersburg durch bürgerliche Politiker beargwöhnt, behindert und verzögert worden. 1929 kam es durch ein Verbot durch die Thüringer Landesregierung zu dem vorläufigen Ende des MOPR-Heimes als Kindererholungsstätte der Roten Hilfe. Danach nutzte die KPD das Heim bis 1931 für Schulungs- und Erholungszwecke. Nach einem erfolgreichen Prozess der Roten Hilfe konnte das Heim ab 1931 wieder für seinen ursprünglichen Zweck betrieben werden, wobei es in den Jahren 1931/32 rund 15 mal von der Polizei durchsucht wurde. Die Durchsuchungen wurden unter anderem durch den nationalsozialistischen Innen- und Volksbildungsminister W. Frick veranlasst.
Der Barkenhoff musste aufgrund des Verbots der Roten Hilfe im März 1933 durch die Faschisten als Arbeiterkinderheim endgültig geschlossen werden.
In der Sowjetunion bestanden mehrere internationale Kinderheime der MOPR, in denen die Kinder von politischen Emigrantinnen untergebracht waren. Noch heute existiert die auf die Gründung von Mentona Moser im Jahr 1929 zurückgehende „Internationale J.-D.-Stassowa-Internatsschule von Iwanowo“, welches nach Jelena Stassowa, der bis 1937 Vorsitzenden des sowjetischen Zentralkomitees der Internationalen Rote Hilfe, benannt wurde.
Das Heim in Iwanowo war am 1. Mai 1933 fertiggestellt worden. In den 30er und 40er Jahren bot dieses Heim vielen deutschen Emigrantenkindern ein Zuhause. So auch der Tochter von Wilma Giffey. »Kinder aus vielen Teilen der Erde, aus Chile, Nicaragua, aus Angola, Zimbabwe, Mozambique, Südafrika, aus Vietnam, Afghanistan und vielen anderen Ländern leben zurzeit in diesem Heim. In Iwanowo hat sich die Idee der Kinderhilfe der Roten Hilfe bis heute fortgesetzt.« (Siegfried Bresler in: Der Barkenhoff, Kinderheim der Roten Hilfe 1923-1932, Worpsweder Verlag, 1991)
»Ich gehe einen mir noch unbekannten Weg. Aber ich weiß, dass er mitten im Menschen endet.« Vogelers letzte Reise in die Sowjetunion im Jahr 1931
Heinrich Vogeler überlegte zu dieser Zeit, für immer in die Sowjetunion zu gehen, um sich ganz in den Dienst des sozialistischen Aufbaus zu stellen. Die Gelegenheit dazu erhielt er im Jahr 1931 bei der Ausstellung seiner Bilder in Berlin in der sowjetischen Handelsvertretung: Ihm wurde eine Stelle als Architekt für landwirtschaftliche Gebäude und Anlagen angeboten. Bei seinem Abschied von Worpswede auf dem Weg in die Sowjetunion äußerte er: »Ich gehe einen mir noch unbekannten Weg. Aber ich weiß, dass er mitten im Menschen endet.«
So ging er nach Moskau, wohin ihm 1932 auch seine Familie folgte.
Mit 59 Jahren nahm er damit in der Sowjetunion den Auftrag an, in einem Komitee für die Standardisierung des ländlichen Bauwesens mitzuarbeiten. Er entwarf landwirtschaftliche Gebäude, mechanische Viehställe, Kolchos – und Jugendschulen. Er sollte durch eine Typisierung der Bauten den Aufbau von Neusiedlungen erleichtern, wobei auch die jeweilige lokale Architektur einzubeziehen war.
1932 war er Leiter der Propagandaabteilung in Taschkent, die sich um Ertragssteigerung durch Saatgutstimulierung kümmern sollte. Auf seinen Reisen durch Usbekistan entstanden viele Skizzen über die Landbevölkerung. Seine Reiseerfahrungen verarbeitete er unter anderem in dem Komplexbild »Baumwolle«.
Heinrich Vogeler hat sehr viele Reisen durch die Sowjetunion unternommen: durch Zentralasien 1926, in den Kaukasus 1933, nach Karelien 1934/35, nach Aserbaidshan 1939, von überall brachte er volle Skizzenbücher mit.
„Ich sehe es so, daß Vogeler der Meinung war, daß dort irgendwo, nicht unbedingt in Moskau, nicht unbedingt in der KPdSU, das neue Leben und neue Beziehungen zwischen den Menschen, vielleicht auch neue Menschen entstehen. Das hat ihn sehr interessiert. Das ist auch der Inhalt seiner Kunst in Moskau gewesen.“ … „Seine Reisen durch die Sowjetunion zeigen, daß er tatsächlich an die Utopie glaubte, trotz aller Schwierigkeiten. Rußland war ja ein sehr rückständiges Land, als die Revolution begann. Es ging für Millionen Menschen erst einmal darum, ihr Analphabetentum zu überwinden, Kultur zu schaffen.“ … … … [Jan Vogeler, UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 637-647]
Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde ihm 1933 der Rückweg nach Deutschland abgeschnitten. Viele verfolgte KPD-Mitglieder, Intellektuelle und Künstler_innen emigrierten nach Moskau, unter ihnen Erwin Piscator, Wilhelm Pieck und Clara Zetkin, die bereits im Juni 1933 verstarb. Vogeler zeichnete sie auf dem Totenbett.
Zudem setzt er sich in Kunst und Literatur für den Aufbau des Sozialismus ein. Gleichzeitig engagierte er sich als Antifaschist politisch gegen die NS-Diktatur in Deutschland. Er arbeitete für die Zeitschrift “Das Wort”, die von Exil-Deutschen, unter anderem von Bertolt Brecht, herausgegeben wurde. 1934 entstand sein Komplexbild „Das Dritte Reich“. Etwa 1937 entstand das Blatt „Die Religion im Dritten Reich“: Aus einem Nest aus Waffen thront der Tod, die brennende Welt unter ihm bedrohend, darüber fliegt – angelehnt an die Figur eines Engels – mit Teufelshörnern der evangelische Reichsbischof Müller, ein früher Förderer von Hitler und ab 1931 Mitglied der NSDAP; in der einen Hand hält er ein Kreuz mit Hakenkreuz, in der anderen ein Bildnis Hitlers mit Heiligenschein.
In einer Rundfunkansprache wandte er sich an deutsche Künstler: „Ich lebe in Sowjet-Russland und habe hier die Möglichkeit, meine Kunst treu auszuüben. […]Deutscher Künstler, für dich gibt es nur eins […]: Entfalte deine ganze Kraft, um den Hitler-Faschismus zu vernichten.”
Broschüre »Das Dritte Reich«
Zusammen mit dem Museum der neuen westlichen Kunst und der Vereinigung der Sowjetischen Künstlerverbände erfolgte 1932 eine Ausstellung seiner Werke und 1935 zeigte die Internationale Rote Hilfe im Gorki-Park in Moskau die Dokumentation „Der Weltfaschismus und die internationale Solidarität der Arbeiterklasse“, bei der Vogeler die künstlerische Leitung innehatte und in der er auch mit Bildern gegen das Dritte Reich vertreten war.
Dabei wurden auch die Bilder einer Broschüre mit dem schlichten Titel »Das Dritte Reich« gezeigt, mit Zeichnungen im Stil von Claus Meffert oder der Holzschnitte von Frans Masereel. Diese Broschüre versuchte nicht, mit mehr oder weniger deutlichen Worten auf die Verbrechen des deutschen Faschismus in dieser Zeit hinzuweisen, sondern sie arbeitete allein mit den Mitteln der Grafik und der Lyrik, die der ebenfalls in Moskau im Exil weilende Dichter Johannes R. Becher beisteuerte. Im Frühjahr 1934 wurde diese kleine Broschüre im Moskauer Verlag »Zwei Welten« aufgelegt. Auf rund 50 Blättern wurden der Terror, die Lügen und die Hintermänner des faschistischen-Regimes anprangert, Alltagssituationen, Widerstand und Verfolgung dargestellt. Der Reichstagsbrand oder die Vorgänge um den 1. und 2. Mai 1933 fanden sich ebenso wieder wie die vielfältigen Formen des faschistischen Alltagsterrors. In den letzten sieben Illustrationen zeichnete Vogeler ein Bild des antifaschistischen Widerstands, wie er vom Exil aus gesehen wurde. Dabei legten Vogeler und Becher in diese Bilder und Texte auch ihre Hoffnung. So lautete die Botschaft im letzten Bild vor dem Hintergrund eines skizzierten Thälmann-Portraits »Es lebe die kämpfende Einheitsfront«. Auf diese Weise entstanden plakative Text-Bild-Kombinationen, die auch für weniger belesene Betrachter_innen sofort eingängig waren. Einige der Blätter fanden sich später in illegalen antifaschistischen Flugschriften und Broschüren oder auch als Klebezettel.
Auch an einem Film wirkte er mit: »Kämpfer«, ein deutscher Exilfilm.
Kunst in der Sowjetunion und Formalismusvorwurf
Weiterhin bemühte Vogeler sich um die Entwicklung einer Kunstform, die die sozialistischen Realitäten in Sowjetrussland, also die Entwicklung einer neuen Gesellschaftsordnung widerspiegeln sollte. Eine welthistorisch neue Epoche müsste auch eine neue Formensprache hervorbringen. Er wandte sich gegen eine Auffassung, die die Weiterführung von bürgerlichen Kunsttechniken des 19. Jahrhunderts bei bloßem Austausch der dargestellten Gegenstände befürwortete.
Mit den ab 1924 entstandenen Komplexbildern meinte er ein formales Prinzip gefunden zu haben, das sich aus den neuen sozialen Strukturen und Prozessen in der Sowjetunion ergab und diese zugleich zum Ausdruck bringe – den „synthetischen Charakter“ der Sowjetkultur. Die Besonderheit – so Vogeler – “der in der Sowjetunion entstehenden sozialistischen Kultur” ist “der synthetische Charakter”, das nicht nach kapitalistischer Manier auf Konkurrenz, sondern auf ein organisches Zusammenwirken abzielende “Verhältnis der Triebkräfte des sozialistischen Aufbaus” zueinander. Zur Darstellung dieses neuen Zusammenwirkens der gesellschaftlichen Kräfte “musste eine solche Form erfunden werden”, die – eben als Form – dazu beiträgt, dass “die Betrachter die Dialektik der Ereignisse zu verstehen beginnen” (Vogeler 1936 in der Zeitschrift, “Iskusstvo”, Moskau).
In den Komplexbildern wurden verschiedene Szenen, die er unter anderem in einzelnen Zeichnungen während seiner Reisen angefertigt hatte, innerhalb eines Bildes zusammengefügt. Die Bildfläche ist in zahlreiche, oft prismatische Einzelfelder aufgesprengt, in denen diese Szenen abgebildet sind, teilweise mit Schriftzügen versehen. Den Zusammenhang stiftete jeweils ein bestimmtes Thema – etwa der Aufbau in einer Sowjetrepublik -, auf das sich alle Einzelszenen bezogen.
Der Aufbau der Komplexbilder veränderte sich im Laufe der Jahre. Bis 1927 wurde die Struktur der Bilder mit Inhalten aus der Sowjetunion oft von einem groß ins Zentrum gesetzten Emblem wie Sowjetstern oder Hammer und Sichel bestimmt. Von diesem Emblem ging die Gliederung der Bildfläche aus. Nach 1927 verschwanden die übergeordneten Embleme, zugleich trat die strenge Abgrenzung der Einzelszenen mehr und mehr zugunsten gleitender Übergänge zurück.
Die Komplexbilder waren als Entwürfe für großformatige Wandgemälde gedacht, zu deren Realisierung Vogeler dann keine Gelegenheit hatte, bzw. aufgrund der weiteren Entwicklung keinen Auftrag bekam.
Denn ab 1935/36 war der“ Sozialistische Realismus“ mit seiner Forderung nach einer volkstümlichen, wirklichkeitsnahen, den Massen unmittelbar verständlichen und eindeutiger Parteilichkeit, zur künstlerischen Doktrin geworden. Die Technik der Komplexbilder wurde als “Formalismus” verworfen, als ein bloßes Spiel mit Formen, die gerade nicht aus den Inhalten hervorgingen. Die Wirklichkeitsausschnitte seien lediglich mechanisch addiert, die Dialektik der Prozesse sei auf diese Weise still gestellt. Außerdem sprächen die Bilder nicht aus sich heraus, sie wären nicht zu verstehen, wenn sie nicht mit “literarischen Bandwurmerklärungen” versehen würden. Ab 1935 wurden diese Bilder nicht mehr ausgestellt.
Aber auch Vogeler selbst meinte nun, dass die kristalline Flächengliederung seiner Komplexbilder gar nicht aus den sozialistischen Realitäten hervorgegangen und daran gebunden wäre. Er fand selbst, dass er an “expressionistischen Formen hängen” geblieben sei (HV: Erfahrungen eines Malers, 1938) und, dass er in seiner Kunst “ideologisch noch nicht klar geschieden” habe “zwischen seinen alten und seinen neuen Arbeiten” (HV: Notizheft 1936). Ihre kristalline Flächenstruktur zitiere seinen ‘Expressionismus’ der Nachkriegsphase und sei ein Relikt seiner damaligen quasi-religiösen, ‘kosmischen’ Weltanschauung. Was neu aus den sozialistischen Realitäten hervorgegangen und nur ihnen adäquat sein sollte, wäre in Wahrheit ein Relikt des quasi religiösen Expressionismus der Jahre 1918 bis 1923.
1936 gab er die Technik der Komplexbilder auf, sie könnten für ihn “keine Angelegenheit der Diskussion mehr sein”. Dem folgend versuchte er, den Maßgaben des Sozialistischen Realismus zu entsprechen und trotzdem Wege zu einer neuen Sowjetkunst zu finden. Einige der entstandenen Komplexbilder zerstörte er oder arbeitete sie in realistische Bilder um. Heinrich Vogeler hatte zwischen 1924 und 1934 fünfzehn von ihm so genannte Komplexbilder geschaffen. Sieben davon sind erhalten. Die restlichen sind verschollen oder wurden nach 1934 von ihm selbst zerschnitten. Überliefert sind neben den erhaltenen Komplexbildern auch zwei nicht ausgeführte Aquarell-Entwürfe.
Die so genannte „Formalismusdebatte“ sollte die Auseinandersetzung mit einer Kunst im Sozialismus noch lange begleiten. Auch in der Deutschen Demokratischen Republik wurde sie von Anfang an – dabei auch vor dem Hintergrund der Entwicklung einer antifaschistischen Kultur nach dem Weltkrieg sowie des „kalten Krieges“ – geführt, auch wenn die Bilder Vogelers schon früh in Ausstellungen gezeigt wurden. Stets erhobene Forderungen waren eine „Volkstümlichkeit“ und die Wiedergabe des Stolzes auf die Aufbauleistungen der DDR, parteilich und von einer sozialistischen Grundhaltung geprägt. Die Auswirkungen auf die Kultur in der DDR waren gravierend und betrafen auch bedeutende Künstler wie Bertold Brecht und Hanns Eisler.
Zeit unter Stalin
In dieser Zeit wurden auch einige von Vogelers Nachbarn von der Staatspolizei abgeholt und verschwanden. Er selbst blieb von den stalinistischen „Säuberungen“ verschont. Jan Vogeler erinnert sich: „Es gab 1936/37/38 die großen Prozesse in Moskau, in denen viele Kommunisten, die als Spione angeklagt und verurteilt, liquidiert, erschossen wurden. Das Besondere in unserer Familie war, dass meine Mutter Sonja Vogeler viele von denen kannte, die vor der Revolution in der Emigration in Deutschland gelebt hatten – so wie ihre Eltern mit ihr. Insofern hatte Sonja Marchlewska eine sehr kritische Einstellung zu diesen Prozessen. Vogeler selber sah das wahrscheinlich nicht so scharf, denn er kannte diese Leute nicht so sehr. Darüber sprach man auch in der Familie nicht viel. Ich wurde zum Beispiel als Junge in Moskau von meiner Mutter so erzogen, dass ich niemandem erzählen durfte, auch nicht den Schulkameraden, was bei uns gesprochen wird, und ich durfte niemanden von denen zu mir einladen.
Ich will damit nur sagen, dass es bei uns in der Familie (damit meine ich meine Eltern und die Großmutter mütterlicherseits, die lange gelebt hat) ein bisschen so war, dass mein – ich sag mal rechtzeitig – 1925 verstorbener Großvater Julian Marchlewski, ein Anhänger Lenins, nicht mehr gefährlich werden konnte. Ich will damit sagen, dass wir diese Zeit relativ gut überlebt haben.“ [Jan Vogeler, UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 637-647]
Vogeler nahm eine eher parteitreue Haltung ein, denunzierte jedoch niemanden. Er beantragte mehrfach, wieder in die KPD aufgenommen zu werden. Als ihm das nicht gewährt wurde, versuchte er, Mitglied der sowjetischen KP zu werden – allerdings ebenfalls vergeblich.
Ende der dreißiger Jahre erhielt er eine neue Aufgabe: Er entwarf für das Deutsche Kollektivistentheater eine Puppenbühne in Odessa mit Köpfen und Bekleidung für die Handpuppen, an deren Ausführung er begeistert arbeitete. Ein Auftrag für Bühnenbilder des Puppentheaters schloss sich an.
In dieser Zeit verfasste er für die sowjetische und die Exilpresse zahlreiche kunsttheoretische und -kritische Arbeiten. 1937 kam in russischer Sprache Vogelers Buch über Frans Masereel heraus. In der deutschsprachigen Exilpresse erschienen unter anderem die Berichte über seine Reisen durch die Sowjetunion und sein Essay zum Gedenken über Paula Modersohn-Becker (hsg. auf deutsch in Texte bis 1942).
Auch ein Artikel zur Gotik in der Exilzeitschrift „Internationale Literatur“ vom Juli 1936 ist hier interessant. Er schrieb diesen, als er aufgrund der Kritik an seinem Werk als formalistisch nach neuen Wegen für seine Arbeit suchte, indem er Studien einer materialistischen Kunstgeschichte betrieb, sich unter anderem mit der Kunst von Riemenschneider beschäftigte, der für eine volksnahe Kunst auf Seiten der aufständischen Bauern stand.
Im März 1941 wurde die Ehe mit Sonja geschieden.
Vogeler intensivierte seine antifaschistische Arbeit, indem er Flugblätter und Rundfunkansprachen gegen Nazi-Deutschland verfasste. Am 26. Mai eröffnete Wilhelm Pieck in Moskau anlässlich des fünfzigjährigen Arbeitsjubiläums die letzte Ausstellung zu Lebzeiten Heinrich Vogelers mit seinen Werken ab 1936. Vogelers Wunsch nach der Ausstellung seiner frühen Werke wurde ihm jedoch nicht erfüllt.
Krieg und Tod
Am Tag des Überfalls der deutschen Armeen auf die Sowjetunion im Juni 1941 meldete sich der 69jährige bei der Propagandaabteilung der Roten Armee. Sein Sohn Jan schloss sich der Roten Armee an. Auch Sonja Marchlewska wurde 1941 als Dolmetscherin zur Roten Armee eingezogen, und zwar zum Generalstab der Roten Armee, Abteilung Aufklärung. Bei beiden war in ihren Pässen die Nationalität „polnisch“ eingetragen. Heinrich Vogeler entwarf antifaschistische Flugblätter und Rundfunkansprachen, bis er aufgrund der schnell vorrückenden Front, wie viele andere Künstler_innen und Intellektuelle der deutschen Emigration, evakuiert wurde. Kinder, Alte und Kranke wurden ebenfalls aus Moskau evakuiert, und auch die Regierung, die nach Kuibyischew ging.
Er war auf einer “Sonderfahndungsliste UdSSR” des Reichssicherheitshauptamtes von den Faschisten zur Exekution vorgesehen. Am 23.August 1941 war die deutsche Presse angewiesen worden, den Maler Heinrich Vogeler nicht mehr zu nennen.
Am 13.September 1941 musste er aus Moskau evakuiert werden. Nach einer langen, beschwerlichen Reise erreichte Vogeler die Kolchose 1. Mai in Kornejewka, Kreis Woroschilow, Gebiet Karaganda, wo er seine letzten Monate verbringen sollte. Untergebracht wurde Heinrich Vogeler mit acht weiteren Personen bei einem Bauern in zwei Zimmern.
Unermüdlich entwarf der Künstler weiterhin Flugblätter, die er nach Moskau schickte, daneben schrieb er weiter an seinen Lebenserinnerungen.
Die Rentenzahlung blieb aufgrund bürokratischer Wirren unter anderem wegen des Kriegsgeschehens über Monate aus. Daher versuchte er, durch die Arbeit beim Bau eines Staudammes Geld zu verdienen. Diese harte Arbeit, seine schwache Gesundheit – eine alten Blasenkrankheit – und mangelnde Ernährung setzten ihm schnell zu. Seinen Freunden in Moskau klagte er sein Leid: „Wir sind weit weg von der Bahn. Steppe ohne Baum und Strauch. Wind, Wind, Sturm. Sehr schlecht für meine verknöcherte Brust. […] Ich hatte mir das Ende meines Lebens anders gedacht, hatte gedacht, man könnte aktiv sein bis an das Ende.”
Um nicht zu verhungern, bat er bei anderen Evakuierten um Verpflegung. Sein Freund, der Schriftsteller Erich Weinert, überwies Geld für den Unterhalt, welches es Vogeler ermöglichte, seine Schulden zu begleichen.
Erst nach dem Ende der Belagerung Moskaus durch die deutschen Truppen konnten ihm Erich Weinert und andere Emigranten Unterstützung zukommen lassen. Doch Vogelers Gesundheit war bereits zu angeschlagen und der fast 70-jährige verkraftete die Entbehrungen der letzten Monate nicht mehr.
„Meine besten Freunde, Ihr Dichter und Schriftsteller. Eure Karte erschien wie ein leuchtender Stern in dunkler hoffnungsloser Sternennacht. Mein Krankheitszustand war schon in vollständige Hilflosigkeit verwandelt. Man fuhr mich so weitere 18 km ins Land in ein primitives Krankenhaus. Ich bin abgemagert wie ein Gespenst, friere bei jedem Wetter, die Eigentemperatur übersteigt nicht mehr 36 Grad. Da ich keine 20 Schritte mehr gehen konnte, hatte ich mit diesem letzten einsamen Steppenweg abgeschlossen.“ Als diese Karte am 27. Juni 1942 ihren Empfänger – den Dichter Erich Weinert – in Moskau erreichte, war ihr Schreiber bereits tot.
Am 14. Juni 1942 starb Heinrich Vogeler im Krankenhaus des Kolchos „Budjonny“ bei Kornejewka, Karaganda, in Kasachstan.
Eine Geldsendung seiner Genossen in Moskau und ein Angebot zur Rückkehr retten ihn nicht mehr.
Sein letztes Wort ist der »Aufruf an das deutsche Volk«, der am 20. Januar als Flugblatt in deutscher Sprache über den deutschen Linien abgeworfen wird und zu dessen Unterzeichnern auch Vogeler gehört: »Erhebt euch mit eurer ganzen Kraft gegen die Hitlerverbrechen! (…) Nieder mit dem Naziregime! Es lebe das neue, freie Deutschland!«
Späteres
Jan Vogeler arbeitete während des Krieges als Dolmetscher und war 1943 Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD). Er blieb nach dem Krieg in der Sowjetunion und studierte.
Mit der Vermittlung von Friedrich Wolf, in der Nachkriegszeit Botschafter in Polen, wo Sonja Marchlewska mittlerweile wohnte, übergab er 1952 den noch in Moskau liegenden Nachlass seines Vaters an die Deutsche Demokratische Republik.
Nach Abschluss des Studiums arbeitete Jan Vogeler als Professor für Deutsche Philosophie und als Dolmetscher. 1956 übersetzte er auf dem XX. Parteitag die erste Kritik Chruschtschows an Stalin. Nach seiner Emeritierung 1990 zog er nach Deutschland, wo er sich 2001 in Worpswede niederließ und in der „Heinrich Vogeler Stiftung“ mitarbeitete. Jan Vogeler blieb Kommunist bis zu seinem Tod im Jahre 2005.
Lange Zeit galt das Grab von Heinrich Vogeler als unbekannt. 1986 wurde ihm zu Ehren ein neuer Grabstein auf dem Friedhof von Budjonny gesetzt mit der Inschrift versehen: »Heinrich Eduard Vogeler, Künstler, Kommunist, 1872–1942«.
Am 14. Juni 1992 wurde in Karaganda ein Denkmal des Bildhauers A. Bilyk enthüllt, welches dem 57. Todestag des großen deutschen Künstlers gewidmet ist.
2015 wurde in Karaganda ein Gedenkstein eingeweiht, in Kooperation mit der dt. Botschaft, dem Verein Barkenhoff-worpswede und der russlanddeutschen Vereinigung „Wiedergeburt“, die seit den 1960er Jahren aktiv ist.
Heinrich Vogelers Autobiographie blieb Fragment. Unter dem Titel „Erinnerungen. Herausgegeben von Erich Weinert. Vogeler, Heinrich“ kam sie 1952 im Verlag Rütten & Loening in der DDR heraus, 1989 erfolgte eine umfassende Ausgabe unter dem Titel „Werden. Erinnerungen.“
In der DDR wurde vor allem das Werk ab den 1920ern gezeigt, es gab Ausstellungen schon in den 1950er und 1960er Jahren. Von der Akademie der Künste der DDR herausgegeben wurde der Katalog zur Ausstellung in Berlin „Heinrich Vogeler – Werke seiner letzten Jahre“, Berlin 1955.
In der BRD wurde Vogeler gefeiert als Jugendstilkünstler und Designer der Güldenkammer und von Möbeln und Besteck, im Ganzen etwas weltfremd und verträumt, obwohl schon 1955 in der ersten bundesdeutschen Ausstellung in der Großen Kunstschau Worpswede einige Arbeiten aus der Sowjetunion gezeigt wurden.
Bemerkenswert ist der schon 1974 im anabas Verlag erschienene Reprint der Broschüre von Meta Kraus-Fessel, „Gegen Kind und Kunst. Eine Dokumentation aus dem Jahr 1927, mit Kinderzeichnungen und Fotos …“, im Original von 1927.
Auf sein revolutionär orientiertes Werk wurde ansonsten im Westen erst 1977 in der Ausstellung „Wem gehört die Welt – Kunst und Gesellschaft in der Weimarer Republik“ hingewiesen. Der Hamburger Kunstverein zeigte 1983 die bis dahin umfassendste Ausstellung, einschließlich seines Spätwerkes.
2012 gab es die große Ausstellung der vier Worpsweder Museen „Heinrich Vogeler. Künstler, Träumer, Visionär“ und 2022 dann unter dem Titel „Heinrich Vogeler. Der neue Mensch“, von ebendiesen Museen die Jubiläumsausstellung zum 150. Geburtstag Vogelers.
Ab 1970 erschienen eine Reihe von Büchern über ihn: 1972 “Von Worpswede nach Moskau“ von Petzet, 1980 „Heinrich Vogeler – Die Komplexbilder“, von Christine Hoffmeister, 1982 „Worpswede, Bremen, Moskau.“ von David Erlay und andere.
Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Literatur über Heinrich Vogeler.
– Siegfried Bresler (Hg.), Gerlinde Grahn (Hg.), Christine Hoffmeister (Hg.), Heinz Werner (Hg.), „Der Barkenhoff Kinderheim der Roten Hilfe 1923–1932. Eine Dokumentation zur Ausstellung im Barkenhoff 1991“, Worpswede 1991
https://www.rote-hilfe.de/literaturvertrieb-2/geschichte-der-roten-hilfe/der-barkenhoff
– Heinrich Vogeler: Künstler – Träumer – Visionär (hsg. von Beate C. Arnold / Sabine Schlenker), München 2022 [das offizielle Buch der Worpsweder Museen
– Zum 150. Geburtstag von Heinrich Vogeler (1872–1942) erschien erstmals eine repräsentative Sammlung mit Texten: Heinrich Vogeler: Schriften. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2022.
Eine Bibliographie ist zu finden unter: https://www.heinrich-vogeler.de/bibliografie/