Rechtswidrige Abschiebungshaft
Aktuelle Statistik zur rechtswidrigen Abschiebungshaft, oder: Der Wahnsinn geht weiter, immer weiter
von Rechtsanwalt Peter Fahlbusch
Wahrscheinlich kennen Sie Punxsutawney. Und täglich grüßt das Murmeltier. Ist eine US-amerikanische Filmkomödie aus dem Jahr 1993. Bill Murray spielt darin einen arroganten, egozentrischen und zynischen Wetteransager, der in einer Zeitschleife festsitzt und ein und denselben Tag immer wieder erlebt…
Genauso geht es mir mit meinen Abschiebungshaftverfahren. Zeitschleife. Hier die ganz aktuelle Abschiebungshaftstatistik, Stand 9.5.2020:
Seit 2001 habe ich bundesweit 1.982 MandantInnen in Abschiebungshaftverfahren vertreten.
982 dieser MandantInnen (dh 49,5 %) wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche „nur“ einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 982 MandantInnen sechsundzwanzigtausendeinhundertundneun (in Zahlen 26.109!!!) rechtswidrige Hafttage, das sind rund 71 Jahre rechtswidrige Inhaftierungen. Im Durchschnitt befand sich jede/r Mandant/in knapp 4 Wochen (genau: 26,6 Tage) zu Unrecht in Haft. Rund 150 Verfahren laufen z.Zt. noch.
Meine Statistik ist repräsentativ. Interessanterweise sind die von mir erhobenen Zahlen seit Jahren fast gleich (d.h. immer rund 50 % der MandantInnen zu Unrecht und zwar im Durchschnitt immer knapp 4 Wochen rechtswidrig in Haft). Täglich grüßt das Murmeltier. Hier ist Punxsutawney.
Insgesamt ist der Befund ein Armutszeugnis. Ein Armutszeugnis für alle am Verfahren Beteiligten. Art. 104 GG, das Kronjuwel unserer Verfassung, scheint relativierbar: Für manche Menschen gilt er schlicht nicht. Und scheinbar macht das auch nichts. Die wenigsten kümmert`s. Weiter so wie immer, weiter, immer weiter…
Siehe auch: Asylrecht in Deutschland: fragmentiert, unübersichtlich, durchlöchert
mit
Der Leitfaden: Asylrecht in Deutschland Informationen – Antworten –Tipps :: Eine Sammlung der wichtigsten Fragen und Antworten zum Asylverfahren in Deutschland. Ein Leitfaden für Flüchtlinge und Helfer. Vom VFR Verlag für Rechtsjournalismus
Die Handlungsanleitung bei drohender Abschiebung eines Kindes oder eines Jugendlichen, hsg vom Flüchtlingsrat Niedersachsen und der GEW Niedersachsen. “Die Verunsicherung bei den Erzieher*innen, Schulleitungen und Lehrkräften über ihren Handlungsspielraum bei einer drohenden Abschiebung eines Kindes oder Jugendlichen ist groß. Grundsätzlich gilt: Achten Sie möglichst frühzeitig auf den Aufenthaltsstatus des geflüchteten Kindes/Jugendlichen. Da Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden müssen, kann die Polizei auch unangekündigt in der Schule oder Kindertagesstätte erscheinen. Was können Sie in dieser Situation tun, wenn Sie die Abschiebung verhindern bzw. nicht unterstützen wollen?”
– Polizei in der Schule oder Kita – Kooperationspflicht? ( “Die Schul- oder Kitaleitung muss bei der Vorbereitung der Abschiebung nicht kooperieren. Schulleitungen müssen Anfragen der Polizei, wann ein/e Schüler*in Unterricht hat und wo sie/er anzutreffen sei, nicht beantworten. § 87 Aufenthaltsgesetz, in dem die Übermittlung von Daten an Ausländerbehörden geregelt ist, nimmt öffentliche Schulen und Bil-dungseinrichtungen ausdrücklich aus. „Im Falle einer polizeilichen Anfrage ist der Angefragte berechtigt, hiervon den Betroffenen zu unterrichten. Es besteht keine Schweigepflicht” ) – Weitere Handlungsschritte – etc. … …
Der Leitfaden für Flüchtlinge in Niedersachsen vom Flüchtlingsrat Niedersachsen
Ein Flyer zu Fluchtursachen, hsg. von medico international, Pro Asyl und Brot für die Welt: u.a. SIE NENNEN ES FLUCHTURSACHEN-BEKÄMPFUNG. — WIR NENNEN ES BEKÄMPFUNG VON FLUCHTMÖGLICHKEITEN. // SIE NENNEN ES PARTNERSCHAFTEN. — WIR NENNEN ES SCHMUTZIGE DEALS. // SIE NENNEN ES ENTWICKLUNGS–ZUSAMMENARBEIT. — WIR NENNEN ES DRUCKMITTEL. // SIE NENNEN ES INVESTITIONSINITIATIVEN. — WIR NENNEN ES FÖRDERUNG DER EIGENEN WIRTSCHAFT. und Weiteres
Noch was dazu:
In Deutschland ist es grundsätzlich legal, dass die Ausländerbehörde oder die Bundespolizei einem Menschen bis zu seiner Abschiebung monatelang die Freiheit entziehen kann. Hauptargument dafür ist, dass der Behörde die Durchführung der Abschiebung damit erleichtert wird.
Die Abschiebehaftanstalt („Unterbringungseinrichtung für Ausreisepflichtige“) Büren bei Paderborn ist die älteste und größte Abschiebehaftanstalt in Deutschland. Das Gefängnis hat aktuell eine Kapazität von 150 Gefangenen. Die Landesregierung NRW hat beschlossen die UfA Büren weiter auszubauen. In ganz Deutschland werden immer mehr Abschiebeknäste errichtet. In Dessau wird eine ehemalige JVA umgebaut. Obwohl bereits zwei Haftanstalten existieren, plant Bayern zwei weitere – jeweils größer als Büren in Passau und Hof.
In Niedersachsen werden die Haftbedingungen stetig weiter verschärft. Aufschlusszeiten werden massiv eingeschränkt, Besuchszeiten gekürzt und Hilfsorganisationen der Zugang zu den Gefangenen erschwert. Es gibt Strafen und Zwangsmaßnahmen, um den „Sicherheitskräften“ ihre Arbeit auf Kosten der Rechte der Eingesperrten zu erleichtern.
Die Praxis Menschen in Abschiebehaft zu stecken, ist eine grausame Tradition in Deutschland. Vor ziemlich genau 100 Jahren wurde sie als Instrument staatlicher Repressionsmaßnahmen gegen nicht erwünschte Menschen eingeführt. In den Fokus dieser Repressionsmaßnahme gerieten damals vornehmlich aus Osteuropa zugewanderte Jüd_innen, die hier vor Pogromen in Osteuropa Schutz suchten. Sie wurden willkürlich eingesperrt, um sie wieder außer Landes zu treiben. Mit der von Himmler verfassten „Ausländerpolizeiverordnung“ wurde die Abschiebehaft 1938 massiv ausgeweitet.
Dieses faschistische Gesetz wurde 1951 von der BRD wörtlich übernommen und erst 1965 überarbeitet. Die Gesetzgebung wurde als Reaktion auf die rassistischen Angriffe zu Beginn der 1990er Jahre weiter verschärft.
Durch den „Asylkompromiss“ wurde 1993 damals nicht nur das Asylrecht faktisch ausgehebelt, sondern auch die Möglichkeiten, Menschen in Abschiebungshaft zu nehmen, stark ausgeweitet. Allein der Verdacht, sich möglicherweise einer Abschiebung entziehen zu wollen, reicht aus, um einen Menschen für bis zu 1½ Jahre einzusperren. Einsperren – der massivste Eingriff in die Freiheit des Einzelnen – wird damit von einer Maßnahme gegen von Gerichten verurteilte Straftäter_innen zu einem einfachen Verwaltungsakt, um diesen Behörden eine bequeme Abschiebung zu ermöglichen. Es handelt sich also nicht um eine Strafe, sondern um eine „Sicherungsmaßnahme“. Obwohl immer wieder betont wird, dass Abschiebehäftlinge keine Strafgefangenen sind und folglich nicht als solche zu behandeln seien, ist ihre juristische Betreuung durch Anwält_innen viel prekärer als die von Gefangenen in „normalen“ Haftanstalten.
Menschen in Abschiebehaft zu stecken ist heute ein wie selbstverständlich und routinemäßig genutztes Instrument von „Ausländerbehörden“. Dabei existiert keinerlei Gesetz, das die Haftbedingungen und die Rechte der Gefangenen in irgendeiner Weise regelt.
Es liegt auf der Hand, dass viele Geflüchtete – oft bereits traumatisiert durch Erlebnisse im Herkunftsland – dieses Eingesperrt Sein kaum aushalten können, zumal sie ja oft nicht wissen, was sie nach ihrer Abschiebung in ihrem Herkunftsland erwartet, beziehungsweise mit dem Schlimmsten rechnen müssen. Auch deshalb kommt es immer wieder zu Selbstverletzungen und Selbsttötungen in Abschiebehaft.
An dieser grausamen Situation ändert auch die euphemistische Wortschöpfung “Ankerzentrum” (“ankommen, registrieren, rückführen”) nichts.
Am 8. Dezember 2000 erhängte sich im Abschiebegefängnis Langenhagen der 17-jährige tamilische Flüchtling Arumugasamy Subramaniam. Er sollte drei Tage später nach Sri Lanka abgeschoben werden. Er war einer von Vielen, die sich in Abschiebehaft das Leben nahmen.
Wir wollen keine isolierten Lager hinter Stacheldraht, sondern die Integration von Geflüchteten in die Gesellschaft!
Das Zwangsinstrument Abschiebehaft gehört abgeschafft!”
Zu weiteren Information siehe auch die Seite der Kampagne 100 Jahre Abschiebehaft mit umfangreichem Material zu Hintergründen, etc. …
und:
https://rotehilfehannover.systemausfall.org/de/node/134
Zum Einlesen:
Das Magazin “Freiheitsliebe” hat einen ausführlichen Artikel zu 100 Jahre Abschiebehaft veröffentlicht. 100 Jahre Abschiebehaft sind 100 Jahre zuviel – Abschiebehaft endlich abschaffen!
Weitere Informationen:
Die Seite des Niedersächsischen Flüchtlingsrates
Das Magazin Der Schlepper Nr. 92/93 Frühjahr 2019 vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
Hau-ab-Gesetz Nummer II – Europa macht dicht? Europa hat die Wahl? – Abgeschoben in Afghanistan
Das Magazin Hinterland Ausgabe Nr. 41 vom Bayerischen Flüchtlingsrat,
100 Jahre Abschiebehaft
Aktion Refugee black box
The VOICE Refugee Forum Germany – Flüchtlinge und Asyl in Deutschland