“Richten Sie Ihrem Chef bitte aus, daß er sich schämen möge”
(Aus dem Briefwechsel zwischen Rechtsanwalt Heinrich Hannover und dem Bundeskanzler(amt) über die Rehabilitierung und Entschädigung westdeutscher Justizopfer des Kalten Krieges, s.u.*)
Der Rechtsanwalt, der Autor von Kinderbüchern und von Büchern über die politische Justiz in der BRB, der entschiedene Antimilitarist und Antifaschist Heinrich Hannover, starb am Morgen des 14. Januar im Alter von 97 Jahren zuhause in Worpswede.
Wir verabschieden uns traurig.
Heinrich Hannover war für Viele von uns ein Begleiter in den Jahren unserer Politisierung, die Bücher über seine Erfahrungen mit der Gerichtsbarkeit in der BRD waren prägend. Aber auch das Buch über die politische Justiz der Weimarer Republik trug maßgeblich dazu bei, vielen von uns diese Zeit und die Vorgeschichte des Faschismus begreiflich zu machen. Die Frage: „Wie konnte es dazu kommen?“ ließ sich nun ansatzweise beantworten, zumindest, was die Rolle der Justiz dabei anging. Allein die Geschichte der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und wie die Mörder von der Justiz gedeckt wurden machte das deutlich genug.
Mit diesen Büchern, anfangs zum Teil mit seiner Ehefrau Elisabeth Hannover-Druck gemeinsam geschrieben, hat Heinrich Hannover zum Entstehen einer neuen historisch bewussten und kritischen Generation – nicht nur von Jurist_innen – beigetragen.
Es ist leider schon eine Weile her, dass wir Heinrich Hannover nach Hannover zu einer Lesung aus seinen Büchern zu uns eingeladen hatten; eine weitere Einladung zu der Neuausgabe seines Buches Politische Justiz 1918–1933 war geplant, kam aber aufgrund der Lockdowns in den Corona Jahren nicht mehr zustande.
Er las damals aus seinen beiden Büchern „Die Republik vor Gericht“ einige eindrucksvolle Passagen. Ganz besonders schön war jedoch zum Abschluss eine Geschichte aus einem seiner Kinderbücher: eine kleine Passage auf Platt aus dem Buch „As de Clown de Gripp har“ machte auch ihm selbst besonderen Spaß, hatte er doch nicht so oft Gelegenheit auf Platt zu lesen – der Verständlichkeit halber.
Nun verabschieden wir uns von diesem freundlichen, in der Diskussion so aufmerksamen wie aber auch über die Zustände in der Republik so zornigen Mann, der in in seinem Buch Die Republik vor Gericht 1954–1995 über sich selbst schrieb: „So bin ich der Anwalt der kleinen Leute, der politisch oder religiös verfemten Minderheiten, der gegen das kapitalistische System und neue Einmischung in Krieg und Völkermord aufbegehrenden Generation geworden.“ Das ist eine Haltung, die nach wie vor in der Juristerei selten ist.
Er fehlt uns.
2005 schrieb er in der Zeitschrift Ossietzky: „Wolfgang Abendroths Bedeutung als Historiker ist in einer Zeit des Darniederliegens der Arbeiterbewegung allzu wenigen bekannt. Seine Darstellung des permanenten Scheiterns einer Einheitsfront der beiden Arbeiterparteien der Weimarer Republik, die Deutschland und der Welt den Hitler-Faschismus erspart hätte, liest man eingedenk des nach dem Kriege neu etablierten antikommunistischen Konzepts der SPD nur mit Beklommenheit. Niemand sollte eine deutsche Schule verlassen, ohne Abendroths »Leben in der Arbeiterbewegung« gelesen zu haben. Sein Leben und seine Arbeit sind Ermutigung für alle, die noch eine Verpflichtung verspüren, den Kampf für eine humanere Gesellschaft nicht aufzugeben.“
Nun schreiben wir: Heinrich Hannovers Bedeutung als Jurist ist in einer Zeit der allgemeinen Biedermeierlichkeit allzu wenigen bekannt. Von seinen Bemühungen vor Gericht Armen und Linken zu Recht zu verhelfen, liest man angesichts der permanenten Polizeigewalt und der nach wie vor von Antikommunismus geleiteten deutschen Justiz nur mit Beklommenheit. Niemand sollte eine deutsche Schule verlassen, ohne Hannovers „Reden vor Gericht“ gelesen zu haben.
Und allen, die Kindern ein gutes Geschenk machen möchten legen wir seine vielen Kinderbücher ans Herz: Zum Teil vor vielen Jahren schon geschrieben sind sie keinesfalls veraltet. Im Gegenteil!
Lest die Bücher von Heinrich Hannover! Es gereicht in allen Fällen euch zum Vorteil.
Zu seinem Lebensweg
Heinrich Hannover kam am 31. Oktober 1925 in Anklam in einer begüterten Arztfamilie zur Welt. Als Jugendlicher war er, um die Voraussetzungen für die Zulassung zum höheren Forstdienst zu erfüllen, in die NSDAP eingetreten und wurde mit 17 zur Wehrmacht eingezogen. Von August 1943 bis Mai 1945 Soldat, kam er als Pazifist aus dem Krieg zurück.
1950 schloss er ein Jurastudium in Göttingen mit dem 1. Staatsexamen ab. Nach Referendariat in Bremen und Abschluss des zweiten Staatsexamens wurde er als Rechtsanwalt zugelassen.
„Als ich im Oktober 1954 in Bremen als Rechtsanwalt zugelassen wurde, stellte ich mir eine Klientel aus der Kaufmannschaft und gutsituierten bürgerlichen Kreisen vor, und hatte auch einen guten Anfang in dieser Richtung, indem ich durch glücklichen Zufall Hausanwalt des Bremischen Haus- und Grundbesitzervereins wurde. Aber dann wurde die angebahnte Karriere abrupt unterbrochen. Mir wurde ein Pflichtverteidigermandat zugewiesen, bei dem ich einen jungen Kommunisten zu verteidigen hatte, der wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt in Tateinheit mit versuchter Gefangenenbefreiung angeklagt war. Er hatte an einer Demonstration von Arbeitslosen teilgenommen, die von der Polizei mit Schlagstöcken traktiert wurden, weil man ihnen unterstellte, dass sie das Rathaus stürmen wollten. Als einer der Demonstranten festgenommen wurde, soll mein Mandant dessen Befreiung versucht haben. Diese Behauptung der Anklage beruhte auf den Aussagen von zwei Polizeibeamten, von denen einer durchaus Anlaß hatte, seinem Schlagstockgebrauch eine erfundene Rechtfertigung zu verleihen, weil er meinem Mandanten eine schwere Augenverletzung zugefügt hatte. Der zweite Beamte wiederholte die Darstellung seines Kollegen fast wörtlich. Eine Darstellung, der mehrere von mir als Zeugen benannte Demonstrationsteilnehmer widersprachen. Sie bekundeten, dass der folgenreiche Schlag des Polizisten erfolgt war, als mein Mandant ein heruntergefallenes Plakat aufgehoben hatte. Aber das Gericht glaubte nicht den Aussagen der Demonstranten, sondern denen der beiden Polizeibeamten. Die von mir als Zeugen benannten Demonstranten waren, mit einer Ausnahme, Kommunisten. Kaum hatte ich sie als Zeugen benannt, hatte der Staatsanwalt sie, soweit es sich um Kommunisten handelte, ebenfalls angeklagt, und zwar nach einem damals noch geltenden Paragraphen aus der Kaiserzeit, der jeden, der sich nach dreimaliger Aufforderung der Polizei nicht entfernte, mit Strafe bedrohte. Dadurch hatte der Staatsanwalt sie als Zeugen ausgeschaltet. Mein Antrag auf Abtrennung des Verfahrens wurde abgelehnt.
Am zweiten Verhandlungstag übernahm ich die Verteidigung auch dieser Demonstranten als Wahlverteidiger, was damals noch möglich war, und erreichte ihren Freispruch, weil nicht zu widerlegen war, dass sie die dreifache Aufforderung der Polizei, sich zu entfernen, bei dem herrschenden Lärm nicht gehört hatten. Aber ihre Rolle als Angeklagte erleichterte es dem Gericht, ihre Aussagen zum Verhalten meines Mandanten zu ignorieren. Und über die mit ihrer Sachdarstellung übereinstimmende Aussage des einen nicht angeklagten Nichtkommunisten setzte sich das Gericht mit „freier Beweiswürdigung“ hinweg. Alles in allem ein Verfahren, das auch einem Anfänger im Strafverteidigerberuf zu denken geben musste.
Dieses Pflichtverteidigermandat gab meinem ganzen Berufsleben eine politische Richtung, die ich nicht vorausgesehen hatte.“
(Aus dem Text: Verhinderte historische Alternativen [Das KPD-Verbot von 1956 und die Folgen für die bundesrepublikanische Justiz] http://heinrich-hannover.de/Verhindert.htm)
Diese Geschichte spielte in den 1950er Jahren, aber wir alle kennen sie aus eigener Anschauung: sie wird auch heute noch genauso oder mit nur leichten Abweichungen vor den bundesdeutschen Gerichten gespielt.
Im Anschluss an das beschriebene Verfahren sprach es sich herum: “Der Hannover verteidigt auch Kommunisten!”
„… es folgten weitere Strafverteidigermandate von Linken, nicht nur von Kommunisten, sondern auch von Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und anderen Opponenten gegen Adenauers Politik der Wiederaufrüstung und der Reaktivierung alter Nazis. Und das machte mich für antikommunistisch eingestellte bürgerliche Kreise als Anwalt unmöglich. Der Haus- und Grundbesitzerverein fand einen anderen Anwalt und die erhofften Mandate wohlhabender Auftraggeber blieben aus.“
Dass Auftraggeber ausbleiben, wenn ein Anwalt sich der Sache von Minderheiten annimmt und dieses auch noch entschieden und mit allen Mitteln des gut erlernten Handwerks tut, wussten alle von Heinrich Hannovers Berufskollegen. Daher fand sich in der gesamten BRD auch nur eine kleine Zahl von Anwälten, die bereit waren, vor Gericht gegen die Sonderbehandlung von Kommunist_innen einzutreten. Gegen welchen Zeitgeist in der frühen BRD diese Anwälte antreten mussten zeigt das folgende Zitat der niedersächsischen Landtagsabgeordneten Maria Meyer-Sevenich: „Entnazifizierung ist nichts anderes als die Bolschewisierung des westdeutschen Raumes“[ Sitzung des niedersächsischen Landtages v. 11. Juli 1951, Stenogr. Prot., 2. Wahlperiode, Sp. 138.]
Heinrich Hannover verteidigte ab da auch schon vor dem KPD – Verbot die erneut verfolgten Kommunisten und Kommunistinnen. Einer seiner ersten Prozesse dazu war ein Verfahren gegen FDJler_innen, angeklagt unter anderem der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung (§ 129). Nach dem KPD-Verbot von 1956 vertrat er kommunistische Widerstandskämpfer, die gegen den Faschismus gekämpft hatten und jetzt wegen angeblichen Verstoßes gegen das Verbot belangt wurden.
In vielerlei Texten und Büchern beschrieb er diese Zeit und sparte nicht mit Kritik am bundesdeutschen Justizsystem. Widerstandskämpfer_innen gegen den Faschismus wurden vor bundesdeutschen Gerichten erneut gedemütigt und verhöhnt, manchmal von denselben Richtern, die sie schon im Faschismus verurteilt hatten. Faschistischen Verbrechern wurden Wege aufgezeigt, ihrer Strafe zu entkommen, wenn sie denn überhaupt vor Gericht erscheinen mussten und ihr Verfahren nicht verschleppt oder eingestellt wurden.
Heinrich Hannover stellte immer wieder fest, dass viele der Richter und Staatanwälte der BRD ihre Ansichten, der sie während der Zeit des Faschismus ihre Karriere verdankten, kaum in Frage stellten. Im Gegenteil: sie hielten an ihrer Gesinnung fest, was sich in ihrem antikommunistischen Verfolgungswillen gegen alles „Linke“ zeigte. In “Die Republik vor Gericht“ schrieb er, das faschistische Denken habe sich über Professoren, Richter und Staatsanwälte, die alle auch Ausbilder waren, fortgepflanzt.
Heinrich Hannover erarbeitete sich seine Sicht der Welt von der Praxis aus.
Bei der Lesung in Hannover, bei der es ja auch vor allem um diese Zeit ging, meinte er, vor allem die ehemaligen Widerstandskämpfer habe er mit tiefer Hingabe und Leidenschaft und aus Hochachtung vor ihren Leistungen verteidigt.
Daneben sei er besonders stolz darauf, bestimmt fast tausend Kriegsdienstverweigerer vor Prüfungskammern und Verwaltungsgerichten verteidigt zu haben und er freute sich, dass die Bundeswehr ihn bei gewonnenen Verfahren dann bezahlen musste. Als Gegner der Wiederbewaffnung war Heinrich Hannover Mitglied im „Verband der Kriegsdienstverweigerer“ und gehörte zeitweilig auch dessen Vorstand an.
Wir sprachen damals auch über seine vielen Niederlagen, und wie er damit zurechtkomme. Es gelte eben einfach und vor allem vor sich selbst bestehen zu können – das habe zur Folge, dass man gelassener mit der Geschichte zurande kommen könne. Er hätte ja auch erst lernen müssen, dass es bei der Justiz nicht um Gerechtigkeit ginge, sondern nur um Recht, was nichts miteinander zu tun habe, bzw. nur im Glücksfall. Zum Beispiel gegen gewalttätige Polizei Anzeige zu erstatten, davon rate er dringend ab: Beamten würde vor den Gerichten immer geglaubt, die Justiz wäre parteiisch, – antikommunistisch und gegen Arme – aus Tradition. Es gäbe aber manchmal Erfolge wie den Freispruch für den irrtümlich wegen Vergewaltigung und Mord angeklagten Bauarbeiter Otto Becker.
Um aber an alldem nicht zu verzweifeln, brauche man einen Ausgleich, er habe ihn in seiner Familie – seiner Frau Elisabeth Hannover-Drück und den Kindern – der Musik und nicht zuletzt beim Schreiben von Geschichten für Kinder gefunden, woraufhin er dann noch eine kleine Geschichte vorlas zum Abschluss der Veranstaltung.
Heinrich Hannover konnte sich bei der Einschätzung der Justiz auf seine langjährige Praxis berufen. In den 60er Jahren trat er in unzähligen Strafprozessen gegen Demonstrant_innen im Zusammenhang mit der Ostermarschbewegung, der Notstandsgesetzgebung, dem Vietnamkrieg und anderen Kolonialkriegen als deren Anwalt auf. Zusammen mit Eugen Kogon, Helmut Ridder, Wolfgang Abendroth und Jürgen Seifert schrieb er 1965 die Broschüre „Der totale Notstandsstaat“, die in hoher Auflage herausgebracht wurde.
In den 1970erJahren ging es um Berufsverbote und Demonstrationen gegen die Atomkraft. Heinrich Hannover verteidigte unter anderem den Schriftsteller Peter-Paul Zahl und Günter Wallraff. Als Verteidiger des Arztes und Historikers Karl-Heinz Roth und von Roland Otto, denen eine lebenslange Freiheitsstrafe drohte, hat er zusammen mit seinem Kollegen Sebastian Cobler gezeigt, dass es- trotz aller Benachteiligungen vor Gericht und trotz falscher Zeugenaussagen von Polizeibeamten – einem guten Anwalt gelingen kann, einen Freispruch von der Anklage des Mordes und Mordversuches zu erreichen. Er konnte die Voreingenommenheit des Richters nachweisen, sodass dem Antrag auf Befangenheit stattgegeben werden musste, unter dem neuen vorsitzender Richter konnte das Anfangs als unmöglich Erscheinende erreicht werden: der Freispruch.
Morddrohungen erhielt er, als er rechtsstaatliche Verfahren und humane Haftbedingungen auch für wegen „Terrorismus“ Angeklagte, z.B. aus der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) wie Ulrike Meinhof und später Astrid Proll, forderte. Auch wenn er die Vertretung von Ulrike Meinhof im Stammheimer Verfahren ablehnte wurde er Betroffener einer medialen Hetzkampagne, verunglimpft als Terroristenanwalt. Den Verleger Axel Cäsar Springer zeigte er daraufhin und aufgrund vollkommen haltloser Behauptungen wegen Volksverhetzung an, erfolglos.
In diesem Zusammenhang musste er sich von 1978 bis 1984 zwei Ehrengerichtsverfahren stellen: ihm wurde vorgeworfen, dass er vom Recht der anwaltlichen Redefreiheit in standeswidriger Weise Gebrauch gemacht hätte – unter anderem, da er Ulrike Meinhofs Haftbedingungen als Folter bezeichnet hatte.
Um gegen falsche und politisch motivierte Vorwürfe zukünftig gefeit zu sein, ließ er die eigenen Plädoyers in politischen Verfahren auf Tonbänder aufzeichnen. Diese sind beim Deutschen Rundfunkarchiv in Frankfurt am Main archiviert und zum Teil auf CD – als Anlage zu seinem Buch Reden vor Gericht – erhältlich.
Auch Kollegen verteidigte er, die Ende der 70er Jahre aufgrund ihrer Tätigkeiten als Strafverteidiger selbst angeklagt wurden. Dabei kam es zu einer denkwürdigen Episode: Heinrich Hannover versuchte den Bankier und Altfaschisten Hermann Josef Abs als Zeugen für die Verstrickung bestimmter deutscher Banken in die Verbrechen des 3. Reiches vor Gericht laden zu lassen. Es gelang ihm nicht, jedoch wurde diese Verstrickung, die damals geleugnet wurde, immerhin benannt und ist heute unbestritten.
In den 1980ern verteidigte er Peter Brückner, dem auch Unterstützung der RAF vorgeworfen worden war, und der als Hochschullehrer in Hannover suspendiert worden war. Wegen der Mitherausgabe und Dokumentation des „Buback-Nachrufs“ wurde Brückner erneut suspendiert, woraufhin er sich mit Hilfe von Heinrich Hannover zur Wehr setzte.
1987 verteidigte Hannover einen der Hamburger Richter, der wegen Nötigung angeklagt war, da er sich mit anderen Kollegen zusammen an einer Sitzblockade gegen die Stationierung amerikanischer Atomraketen in Mutlangen beteiligt hatte. Heinrich Hannover freute sich sehr über solche Richter, er fand das wäre nun endlich ein Bruch in der Tradition der fürchterlichen Juristen.
Von 1988 bis 1992 versuchte Heinrich Hannover die Rehabilitierung von Carl von Ossietzky, in den 1920er Jahren Herausgeber der Weltbühne und Friedensnobelpreisträger, zu erreichen. Von Ossietzky war vom Reichsgericht 1931 als Landesverräter verurteilt worden. Leider und fast unglaublicher Weise scheiterte er mit diesem Wiederaufnahmeverfahren.
Im Februar 1982 nahm Heinrich Hannover den Auftrag an, für die Tochter des ermordeten KPD-Vorsitzenden Ernst Thälmann als Nebenklägerin ein Klageerzwingungsverfahren gegen den ehemaligen SS-Funktionär Wolfgang Otto wegen Beihilfe zu der Ermordung Thälmanns durchzuführen.
Im April 1962 hatte der Kollege Kaul im Auftrage der Witwe Thälmanns Strafanzeige gegen Otto und einen weiteren damals noch lebenden Mittäter erstattet. In den folgenden Jahren wurde das Ermittlungsverfahren, das von Kaul mit Beschwerden und Anträgen immer weitergetrieben wurde, wiederholt eingestellt.
Mit der Klageerzwingung hatte Heinrich Hannover »in dieser verschleppten und von Justizversäumnissen wimmelnden Sache« (Heinrich Hannover 1988 im Revisionsverfahren vorm Landgericht Düsseldorf) Erfolg, die Staatsanwaltschaft musste Anklage erheben. Am 15. Mai 1986 wurde Otto vom Landgericht Krefeld für schuldig befunden und zu vier Jahren verurteilt.
Der Bundesgerichtshof revidierte 1987 das Urteil – sozusagen um der natürlichen Ordnung der BRD zu folgen. Die erneute Verhandlung 1988 vor dem Landgericht Düsseldorf führte letztlich zum Freispruch.
In seinem Schlussvortrag hatte Heinrich Hannover darauf hingewiesen, dass bei faschistischen Verbrechen in Deutschland „entgegen den einfachsten Regeln der Logik“ zwischen der höchsten Spitze der Befehls-Pyramide sowie den Henkern an der Basis „ein strafrechtliches Loch gähnt, in dem es keine Kausalität und keine Schuld gibt“. Er bezeichnete das Verfahren am Tag der Urteilsverkündung 1988 als “Terroristenprozess besonderer Art, bei dem der Angeklagte weder Fesseln noch spürbare Gewissenslasten mit sich herumtrug, das Gericht ein Höchstmaß an Rücksichtnahme und Gründlichkeit zeigte und die Staatsanwaltschaft sich frei von jedem Verfolgungseifer präsentierte.”
Doch auch wenn dieses Verfahren verloren ging: allein dass es stattfand und der bundesdeutschen Justiz geradezu abgerungen werden musste hatte – nach Fritz Bauer – eine aufklärende Bedeutung. Darum hier auch Auszüge aus Heinrich Hannovers Artikel, in dem er er das Verfahren analysierte und seine Vorgeschichte aufzeigte:
„Zum Thälmann-Mord-Verfahren
Am Beispiel des Thälmann-Mörders Wolfgang Otto läßt sich ein Stück bundesdeutscher Justizgeschichte veranschaulichen, das eng verflochten ist mit dem deutsch-amerikanischen Militärbündnis.
Abgesehen von ihrer Mitwirkung bei den Nürnberger Prozessen gab es eine Reihe von Militärgerichtsverfahren, darunter eines, das sich gegen die SS-Führungsclique des KZ Buchenwald richtete und die Verbrechen zum Gegenstand hatte, die von den Angeklagten im Konzentrationslager BuchenwaId an nichtdeutschen Häftlingen begangen worden waren. Einer der Angeklagten war Wolfgang Otto, der am 14. August 1947 zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt wurde. … Die Verurteilung Ottos bezog sich auf seine Tätigkeit als Stabsscharführer und Leiter des Kommandos 99, das für Exekutionen im Lager zuständig war. Otto hatte in dem Militärgerichtsverfahren zugegeben, an ungefähr 50 Exekutionen als Protokollführer oder Schütze teilgenommen zu haben, bei denen etwa 200 nichtdeutsche Häftlinge getötet worden sind.
Von den 20 Jahren Freiheitsstrafe, die das amerikanische Militärgericht dem Angeklagten Otto für diese Verbrechen auferlegt hatte, brauchte er nur 7 zu verbüßen. Am 6. März 1952 wurde er vorzeitig aus dem Kriegsverbrechergefängnis in Landsberg entlassen.
Was war geschehen?
Der erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Dr. Konrad Adenauer hatte den Westmächten einen deutschen Verteidigungsbeitrag angeboten, und maßgebliche Kreise in den USA erkannten, daß es gemeinsame Interessen der kapitalistischen Staaten gibt, die schwerer wiegen als völkerrechtliche Prinzipien.
Damit erfüllten sich die antikommunistischen Träume, denen schon die Angeklagten des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses Ausdruck gegeben hatten. Die kurze Blütezeit der Demokratie, in der die Widerstandskämpfer von gestern ihren legitimen Platz hatten, ging zu Ende. Und es schlug die Stunde der vorübergehend beurlaubten Machtträger von gestern. In dem gleichen Jahr 1951, in dem von der damaligen Bundesregierung beim Bundesverfassungsgericht der Antrag auf Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands gestellt wurde, das die politische Arbeit von Menschen, die schon im Hitler-Reich verfolgt worden waren, erneut illegalisierte, schuf der Bundestag mit dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Art. 131 GG fallenden Personen die Voraussetzung dafür, daß die Leute, die gestern zu den Stützen eines verbrecherischen Systems gehört hatten, in Amt und Würden zurückkehren konnten. Zu denen, die seit Jahren ungeduldig darauf warteten, daß sie wieder gebraucht würden, gehörten vor allem die Militärs von gestern, vor allem Hitlers Generalität. … …
Und so lautete denn eine der ersten Forderungen des von Adenauer eingesetzten Gehirntrusts: Rehabilitierung des deutschen Soldaten durch eine Erklärung von Regierungsvertretern der Westmächte (Aufhebung der seinerzeitigen Diffamierung durch Kontrollrats- und andere Gesetze). ‘
Gefordert wurde also die Aufgabe der gesetzlichen Grundlagen der Nürnberger Prozesse.
Weitere Forderungen dieses Kreises lauteten:
Freilassung der als »Kriegsverbrecher« verurteilten Deutschen, soweit sie nur auf Befehl gehandelt und sich keiner nach alten deutschen Gesetzen strafbaren Handlungen schuldig gemacht haben .
Einstellung schwebender Verfahren.
Einstellung jeder Diffamierung des deutschen Soldaten einschließlich der im Rahmen der Wehrmacht seinerzeit eingesetzten Waffen-SS.
Maßnahmen zur Umstellung der öffentlichen Meinung im In- und Ausland.’ I (Hans-Jürgen Rautenberg, Norbert Wiggershaus, Die . Himmerroder Denkschrift. von Oktober 1950, Karlsruhe 1985 , zit. nach Lea Rosh, NS-Täter vor dem Nürnberger Tribunal und ihre spätere Amnestierung. SendemanuskrIpt Radio Bremen.)
Diese Forderungen der Hitler-Generäle wurden durch die Amerikaner weitgehend erfüllt. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 wurde aufgehoben, … Und John McCloy, der amerikanische Hochkommissar, begnadigte nach und nach die von amerikanischen Militärgerichten verurteilten Kriegsverbrecher von gestern.… Und so konnte man sich zum gemeinsamen roll-back des kommunistischen Weltfeindes verbünden, nachdem man sich darüber verständigt hatte, die Verbrechen von gestern mit einem großen Schwamm auszulöschen. Wolfgang Otto war einer von denen, die von dieser politischen Entwicklung profitierten.
Mit der Begnadigung der am schwersten belasteten Kriegsverbrecher wurden zwar gute Voraussetzungen für die Remilitarisierung der Bundesrepublik, aber schlechte für die Justizabrechnung mit der NS-Vergangenheit geschaffen. … … …
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0023-4834-1987-1-68.pdf?download_full_pdf=1
1989 kam das Buch „Der Mord an Ernst Thälmann. Eine Anklage.“ von Heinrich Hannover heraus.
In den 1990er Jahren war Heinrich Hannover dann Anwalt von Bundesvorstandsmitgliedern der Grünen, die zu Kriegsdienstverweigerung und Fahnenflucht im Golfkrieg aufgerufen hatten (man glaubt es kaum angesichts des heutigen Zustandes dieser Partei).
Des Weiteren verteidigte er DDR-Bürger gegen die neue Kommunistenverfolgung, wie Heinrich Hannover die Prozesse dieser Zeit bezeichnete. 1993 verlor er seinen letzten großn Prozess, das Verfahren gegen Hans Modrow, der wegen Wahlfälschung verurteilt wurde.
Die Vereinigung Demokratischer Juristen ehrte 2008 den Rechtsanwalt Heinrich Hannover mit dem Hans-Litten-Preis (https://www.vdj.de/beitrage-aktuelles/dankrede-von-dr-heinrich-hannover) und würdigte damit sein unermüdliches Eintreten für Demokratie und Menschenrechte. 1986 war er schon durch die DDR als Dr. h. c. der Humboldt-Universität zu Berlin wegen seines vielseitigen Engagements geehrt worden.
Bis ins hohe Alter schrieb er Artikel und Aufsätze, unter anderem für die Zeitschrift “Ossietzky”, nämlich dann, “wenn das Fass meiner Wut auf die politischen Weltverhältnisse überschäumte”.
Ausgewählte Bücher von Heinrich Hannover zur deutschen Justizgeschichte
Hannover, Heinrich: Die Republik vor Gericht 1954-1975. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Aufbau Verlag, Berlin 1998, ISBN 3351024800, gebunden, 495 Seiten, 25,51 EUR
Die Liste von Hannovers Mandanten spiegelt ein Stück bundesdeutscher Geschichte wider: Die Verfahren gegen Günter Wallraff, Ulrike Meinhof, Peter-Paul Zahl, Karl Heinz Roth, Astrid Proll, der Thälmann-Mordprozeß, das Wiederaufnahmeverfahren für Carl von Ossietzky und der Prozeß gegen Hans Modrow haben im ganzen Land Aufsehen erregt. Seine Fälle zeigten immer wieder, daß mit dem Rechtsstaat, der nach dem Unrechtssystem der Nazis in Deutschland entstanden war, mitnichten alles zum besten bestellt war. Heinrich Hannover hat seine Erinnerungen anhand der Prozeßakten und Tonbandmitschnitte verfaßt.
(Klappentext)
Hannover, Heinrich: Die Republik vor Gericht 1975-1995. Erinnerungen eines unbequemen Rechtsanwalts. Aufbau Verlag, Berlin 1999, ISBN 3351024819, gebunden, 496 Seiten, 25,51 EUR
Wann immer die radikalen Kritiker der Bundesrepublik vor Gericht kamen, stand ihnen Heinrich Hannover als Anwalt zur Seite. Die Bundesrepublik hatte mit den Terroristen der ersten und zweiten Generation längst ihre Schuldigen benannt, aber Heinrich Hannover liefert uns anhand seiner spannendsten Fälle eine andere Sicht der Dinge und zeigt uns, daß sich auch in späteren Jahrzehnten der Staat stets gegen seine Kritiker zur Wehr setzte und daß in seinem Justizapparat oft noch die “furchtbaren Juristen” des Nationalsozialismus das Sagen hatten.
(Klappentext)
Elisabeth Hannover-Drück, Heinrich Hannover: “Politische Justiz 1918 – 1933”. 330 S. Lamuv Vlg., Göttingen 1987 ISBN 3889771254 (Erstauflage 1966)
Heinrich Hannover: Reden vor Gericht, Plädoyers in Text und Ton, PapyRossa Verlag, Köln 2010
Heinrich Hannover, Günter Wallraff: Die unheimliche Republik: Politische Verfolgung in der Bundesrepublik, VSA-Verlag, Hamburg 1982
Heinrich Hannover, Der Mord an Ernst Thälmann. Eine Anklage. Röderberg im Pahl-Rugenstein Verlag, Köln 1989
Hannover-Drück, Elisabeth; Hannover, Heinrich, Der Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1979
Kinderbücher (Auswahl)
- “Was der Zauberwald erzählt”. (Ab 4 Jahre) Gerstenberg Verlag, Hildesheim 2004, ISBN 3806750688 (illustriert von Selda Marlin Soganci, 160 S.)
- “Das Pferd Huppdiwupp und andere lustige Geschichten”. Rowohlt TB-V., Reinbek 2002. ISBN 3499212005
- “Die untreue Maulwürfin”. (Lesestufe 8-10 Jahre) mit Manfred Bofinger (Illustrationen), Aufbau Verlag, Berlin 2000, ISBN 3351040083
- “Der müde Polizist. Vorlesegeschichten ab 4.” Rowohlt TB-V., Reinbek 1997 (orig.: März-Verlag, Frankfurt am Main 1972)
- Die Birnendiebe vom Bodensee : Spass- und Spielgeschichten”. Verlag Atelier im Bauernhaus, Fischerhude 1978
- Der vergeßliche Cowboy” Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1980
- Der Mond im Zirkuszelt und andere Vorlesegeschichten” Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985
- “Der fliegende Zirkus” Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986
- “Der Untergang der Vineta oder Die Geige vom Meeresgrund” Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1987
- “Die Schnupfenmühle” Diesterweg, Frankfurt am Main; Berlin; München; Sauerländer, Aarau; Frankfurt am Main; Salzburg c 1985
- “Schreivogels türkisches Abenteuer” VSA-Verlag, Hamburg 1981
- “Als der Clown die Grippe hatte. Neue Geschichten und Gedichte” 1995
* Zur Überschrift
“Richten Sie Ihrem Chef bitte aus, daß er sich schämen möge”
Aus dem Briefwechsel zwischen Rechtsanwalt Heinrich Hannover und dem Bundeskanzler(amt) über die Rehabilitierung und Entschädigung westdeutscher Justizopfer des Kalten Krieges:
16. 12. 1999 … Es kann nicht die Rede davon sein, daß die politische Justiz der 50er und 60er Jahre “unstreitig nach rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt” worden sei. Ich bestreite die Rechtsstaatlichkeit dieser Verfahren mit Nachdruck, ebenso wie mein Kollege Dr. Rolf Gössner, auf dessen Buch “Die vergessenen Justizopfer des kalten Kriegs” ich Ihren Auftraggeber ebenso hingewiesen habe wie auf mein Buch “Die Republik vor Gericht 1954 – 1974”. Und wir sind nicht die ersten, die dies getan haben.
Mir ist bekannt, daß Konservative sich auf Alexander von Brünneck (“Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1968”) berufen, der die Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze eindrucksvoll aufgelistet und gerügt hat, aber gleichwohl der bundesrepublikanischen Justiz bei einem Vergleich mit der Terrorjustiz des Nazi-Reichs einen “rechtsstaatlichen Anspruch” bescheinigt hat. Es bedurfte des Vergleichsmaßstabes der Nazijustiz, um zu diesem dürftigen Lob zu kommen. …
Worpswede, 27.3.2000 … Die historischen Fakten sind zwar noch nicht im öffentlichen Bewußtsein, aber es gibt hierzulande Politiker, die sie kennen und auch die Macht hätten, den Unrechtszustand wenigstens für die Zukunft und für die wenigen Betroffenen, die noch leben, zu ändern. Dies wird, wie ich Ihrem Schreiben entnehme, mit fadenscheinigen Gründen verweigert. Richten Sie Ihrem Chef bitte aus, daß er sich schämen möge.
(Komplett zu finden auf der Seite: http://www.heinrich-hannover.de/briefwechsel.htm)
Weitere Links:
Webseite von (bzw.zu) Heinrich Hannover: http://www.heinrich-hannover.de/
Politische Justiz in der Bundesrepublik Deutschland (aus einem Vortrag in Lyon, 30.1.2009) http://heinrich-hannover.de/politjustiz.htm
„Wenn wir Strafverteidiger in den Kommunistenprozessen der 1950er und 60er Jahre den zum großen Teil noch der Nazi-Justiz entstammenden Richtern und Staatsanwälten vorwarfen, daß sie politische Gesinnungsjustiz betrieben, dann wurde uns heftig widersprochen. Es handle sich um die Aburteilung krimineller Vergehen und Verbrechen, hieß es, von politischer Justiz könne überhaupt nicht die Rede sein, bei uns gehe alles rechtsstaatlich zu. Konservative Rhetorik, die noch bis in unsere Tage herrscht.“
Film über Heinrich Hannover: https://www.defa-stiftung.de/en/films/film-search/heinrich-hannover-rechtsanwalt/
Texte: https://www.neuer-weg.com/node/1065
Übersicht von Texten von Heinrich Hannover:
https://www.bayerischer-anwaltverband.de/recht-und-gesellschaft/das-heinrich-hannover-archiv/
Das KPD-Verbot Von Sylvia Conradt 2006 im Deutschlandfunk https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-kpd-verbot-100.html