FREIFAHRSCHEIN FÜR STAATLICHE WILLKÜR – PROZESS WEGEN §114A

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Ein Prozess bericht der Ortsgruppe Kassel der Roten Hilfe e.V. 

https://www.solidaritaet-verbindet.de/aktuelles/114-angriff-auf-vollstreckungsbeamte/

Die angeklagte Genossin hatte Anfang 2018 an einer Demonstration in Hannover gegen die türkische Militäroffensive auf Afrîn (Nordsyrien) und gegen türkischen Faschismus teilgenommen. An diesem Tag hatten auch türkische Nationalist*innen in die Stadt mobilisiert, um den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg propagandistisch zu befeuern. Am Steintor griff die Polizei nach Ende der Demo die pro¬kurdischen Demonstrant*innen an, wobei ein jugendlicher Kurde in Gewahrsam genommen werden sollte, dem vorgeworfen wurde, eine Flagge mit dem Abbild Abdullah Öcalans mit sich zu tragen. In dieser unübersichtlichen Situation wurden auch die Personalien der später angeklagten Genossin aufgenommen. Der Vorwurf im gegen sie ausgestellten Strafbefehl lautete „Vergehen des tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, strafbar gemäß §114 Abs. 1 Strafgesetzbuch“. Sie legte mit anwaltlicher Unterstützung Widerspruch ein, worauf es zum Prozess kam. Der zentrale Teil des erst 2017 neu geschaffenen §114 StGB (tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte), auf den sich auch die konkrete Anklage stützt, stammt eigentlich aus dem §113 und beschränkte sich bislang auf Widerstandshandlungen in Vollstreckungssituationen. Der Straftatbestand des „tätlichen Angriffs“ hat im §113 StGB eine lange Geschichte, deren Ursprung im preußischen Strafrecht liegt. Nach Kommentarauffassung bestand die Intention des Gesetzgebers bei dessen Neufassung in den 1970er Jahren darin, mittels dieses Straftatbestands die verständliche Erregung der Bürger*innen in Vollstreckungssituationen weniger hart zu bestrafen (zu privilegieren), als wenn diese nach dem Straftatbestand der „versuchten einfachen Körperverletzung“ etwa im §223 StGB bestraft würden. Durch die Übertragung des Straftatbestands in den 2017 neu geschaffenen §114 StGB wird dieser aber jetzt mit mindestens drei Monaten und bis zu fünf Jahren Haft deutlich höher bestraft, als etwa versuchte einfache Körperverletzung in §223 StGB – und damit in sein genaues Gegenteil verkehrt. Zudem ist der Straftatbestand des „tätlichen Angriffs“ völlig unbestimmt und wird nach herrschender Meinung als „unmittelbar auf den Körper zielende gewaltsame Einwirkung“ definiert, die weder eine körperliche Verletzung noch Schmerz zufolge haben und noch nicht mal vorsätzlich geschehen muss.

Eindeutige Lügen

Wie problematisch ein solcher Freifahrtschein für staatliche Willkür ist, führt der Prozess gegen die Genossin sehr deutlich vor Augen. Als einziger Zeuge war der BFEler Benjamin H. der zentralen Polizeidirektion Niedersachsen geladen. Ein Polizeizeuge, der bei einem Verfahren Anfang März 2019 erneut der Falschaussage überführt wurde. Des Weiteren wurden der Prozessakte zwei Videoaufzeichnungen als Beweismittel beigelegt. Wobei die zur Anzeige gebrachte Situation gar nicht auf den Videos zu sehen war weil, wie sich später herausstellen sollte, dieser angebliche Angriff nie stattgefunden und der BFEler Benjamin H. schlicht gelogen hatte. Im Zeugenstand beschrieb besagter Polizeikommissar dann, wie er gesehen haben will, wie die angeklagte Genossin während einer Festnahme einen seiner Kollegen getreten und mehrfach mit beiden Händen „zum Kopf hin geschlagen“ habe. Ob sie seinen Kollegen dabei getroffen habe, daran konnte sich Benjamin H. nicht mehr erinnern. Schließlich habe er aber der Beschuldigten beherzt von der Seite in die Haare gegriffen und diese nach hinten weggerissen, bevor er sie schließlich zum Polizeiwagen beförderte, um eine Identitätsfeststellung durchzuführen. Mehrfach half ihm die Richterin nach einem Blick auf seinen zuvor schriftlich verfassten Einsatzbericht auf die Sprünge, da seine Angaben teilweise fehlerhaft oder widersprüchlich ausfielen. Der Anwalt der angeklagten Genossin forderte im Anschluss Benjamin H. auf, eine Skizze der Situation anzufertigen. Anfangs zierte er sich ein wenig, man sei „ja schließlich nicht im Kindergarten“. Dann griff er aber doch zu Stift und Papier und zeichnete die Szenerie auf. Auf Wunsch der Richterin nahm der Zeuge dann, für eventuelle Rückfragen, vor dem Gerichtssaal Platz. Nach dieser Aussage sah es nicht gut aus für die angeklagte Genossin. Aber zum großen Glück hatte ihr Anwalt noch ein ziemliches Ass im Ärmel: Der Akte eines anderen Strafverfahrens gegen einen Genossen im Kontext der gleichen Demo lag ein weiteres Video von einem Kamerawagen der Polizei bei, das in der Strafakte der angeklagten Genossin vorenthalten wurde, obwohl sie dadurch vollständig entlastet wurde. Auf diesem Video ist im Panorama, neben der Ingewahrsamnahme des Genossen, auch genau die Situation zu sehen, in der die angeklagte Genossin laut Zeugenaussage des Benjamin H. einen seiner Kollegen getreten und „zum Kopf hin geschlagen“ haben soll. Die Szenerie ist identisch mit der zuvor angefertigten Skizze des Zeugen. Lautstark macht die Angeklagte darin ihrem Unmut über die zuvor erfolgte Ingewahrsamnahme ihres Genossen Luft. Von Schlägen oder gar Tritten zum Kopf hin ist aber nichts zu sehen. Nachdem Richterin und Staatsanwaltschaft das Video gesichtet hatten, wurde der Zeuge Benjamin H. erneut hereingebeten und zum Video befragt. Während der ersten Sekunden des Videos gefragt, ob er die Beschuldigte erkenne und ob dies die Situation sei, die er zuvor geschildert hatte, antwortete der Beamte mit „Ja“. Als das Video weiterlief, machte sich Erleichterung unter den anwesenden Unterstützer*innen breit, denn nun war es eindeutig belegt: BFEler Benjamin H. hat gelogen, dass sich die Balken biegen. Richterin und Staatsanwaltschaft waren sich schnell einig, das Verfahren mit einem Freispruch für die Genossin zu beenden. Es gibt allerdings auch keinen Zweifel daran, dass die angeklagte Genossin für mindestens drei Monate verurteilt und damit vorbestraft worden wäre, wenn nicht ihrem Anwalt das Video aus der Prozessakte des anderen Genossen zufällig bekannt gewesen wäre. Selbstverständlich wurde auch vor der Neufassung des §114 StGB seitens der Polizei kräftig gelogen. Dieser Prozess zeigt aber sehr deutlich, dass es scheinbar einen starken Willen in Polizeibehörden gibt, Linke zu bestrafen und zu kriminalisieren. Belegt wird das nicht nur durch die absichtliche und dreiste Lüge des Polizeizeugen, sondern auch dadurch, dass in der Ermittlungsakte entlastendes Material zurückgehalten wurde und die Staatsanwaltschaft trotz des entlastenden Beweismaterials jetzt doch in Berufung gehen will. Die völlige Unbestimmtheit des Straftatbestands des „tätlichen Angriffs“ ermöglicht der Polizei dabei, Personen völlig willkürlich für mindestens drei Monate und bis zu fünf Jahre hinter Gitter zu bringen (wobei die Strafe erst ab zwei Jahren nicht mehr zu Bewährung ausgesetzt wird), ohne dass es tatsächlich zu einer Verletzung gekommen sein oder überhaupt eine Absicht nachgewiesen werden muss.

Da kommt noch einiges auf uns zu …

Eine falsche Bewegung oder gar, wie bei der angeklagten Genossin fast geschehen, die bloße Anwesenheit und ein lügender Polizist reichen aus, um in nicht unerheblichem Ausmaß bestraft zu werden. Und genau hier liegt auch der Grund, warum mittels der Neufassung des §114 StGB jegliche Rechtsstaatlichkeit mit Füßen getreten wird. Da sich Polizeibeamt*innen bereits in Foren gegenseitig dazu auffordern, den §114 StGB häufiger anzuwenden und deshalb Anzeigen zu erstatten, ist davon auszugehen, dass die Rote Hilfe e.V. in naher Zukunft vermehrt mit Anklagen wegen dieses Paragraphen zu rechnen hat.

Staatliche Repressionsbehörden werden diesen vermehrt nutzen, um Linke zu bestrafen und zu kriminalisieren. Interessant wird, ob es in naher Zukunft eine Entscheidung, etwa des Bundesverfassungsgerichts, zur Rechtmäßigkeit des §114 StGB geben wird, da dieser nicht mit dem Grundgesetzt vereinbar ist. In ihm wird die Berufsgruppe der Polizist*innen durch die höhere Bestrafung privilegiert gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen, was im Widerspruch zum allgemeinen Gleichheitsanspruch des Grundgesetztes steht. Der naive Gedanke, dass Benjamin H. nun wegen Meineids belangt werden könnte, weil seine wissentliche Falschaussage vor Gericht fast eine Vorstrafe oder, schlimmer noch, Gefängnis eingebracht hätte, verfliegt so schnell wie er gekommen ist. Viel eher ist es wahrscheinlich, dass besagter Polizeizeuge auch in anderen Verfahren bewusst Falschaussagen tätigt. Sicherlich auch dadurch ermutigt, dass keine Konsequenzen aus offensichtlichen Lügen folgen. Stattdessen organisiert sein Arbeitgeber ihm und seinen Kamerad*innen noch eine Weihnachtsfeier, die dermaßen eskaliert, dass sie Tage später noch große mediale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Und die Staatsanwaltschaft legt, wie oben bereits angeführt, trotz der entlastenden Beweise und der Tatsache, dass ein Polizist einen Meineid geleistet hat, Rechtsmittel gegen das Urteil ein und will die Genossin bestrafen, obwohl keine Straftat vorliegt.

1 Gerichte setzen sich mit so genannten Gesetzeskommentaren vor allem dann auseinander und beziehen diese in ihre Urteile mit ein, wenn es noch kein höchstrichterliches Urteil im Sinne einer herrschenden Meinung (hM) zu der Auslegung etwa eines Straftatbestands wie dem des „tätlichen Angriffs“ gibt. Die führenden Kommentartexte (im Strafrecht etwa Fischer) bestimmen mit, was der Konsens zur Auslegung etwa eines Straftatbestands wie dem des „tätlichen Angriffs“ im Sinne der hM ist. Wobei „Konsens“ in der Juristerei Entscheidungen von oberen Instanzen meint und nicht etwa die Zustimmung aller. Der hM steht die Mindermeinung gegenüber, also eine Meinung über die Auslegung von Gesetzesnormen, die diesem „Konsens“ entgegensteht. Bezogen auf die Auslegung der Strafrechtsnorm des „tätlichen Angriffs“ könnte eine Mindermeinung versuchen, diese klarer zu definieren. Etwa indem die zur Anzeige gebrachten Handlungen als körperverletzungsgeeignet definiert werden oder indem der Nachweis eines Vorsatzes zur Bedingung der Strafrechtsnorm des „tätlichen Angriffs“ wird. 2 Wobei in §56 StGB geregelt ist, dass Strafen geringer als zwei Jahre Haft auf Bewährung auszusetzen sind. Strafen ab drei Monaten Haft sind allerdings mit einer Vorstrafe verbunden, wohingegen ein niedrigeres Strafmaß lediglich mit einem Bußgeld verbunden ist. 3 BFE steht für Beweissicherungs¬ und Festnahmeeinheit. Diese Spezialeinheiten der Polizei werden vor allem bei Demos eingesetzt, um vermeintliche Straftaten zu dokumentieren, also bspw. permanent zu filmen oder später „Augenzeugen“ aufzubieten, und um Personen festzunehmen, oft gewaltsam direkt aus Demos heraus. 4 Mehr dazu in der taz vom 13. März 2019 unter http://www.taz.de/!5578085/

Artikel der Ortsgruppe Kassel