AZADI

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Obwohl der Kassationshof in Brüssel (das oberste Gericht der ordentlichen Gerichtsbarkeit

Belgiens und damit die letzte Instanz in Zivil- und Strafverfahren – Urteile können entweder bestätigt oder kassiert werden) am 28. Januar 2020 entschied, dass die PKK nicht als terroristische Organisation, sondern als eine bewaffnete Konfliktpartei gemäß dem internationalen Völkerrecht anzusehen ist (siehe unten), wird die deutsche Justiz nicht müde weiterhin kurdische Aktivist_innen vor Gericht zu bringen und abzuurteilen.

 

Eine Reihe von Verfahren stehen an, unter anderem eröffnet das OLG Koblenz ein §129a/b Verfahren gegen Hüseyin A.

Mustafa Çelik ist mittlerweile in Hamburg wegen Mitgliedschaft in der PKK zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt worden.

 

 

OLG Koblenz eröffnet §§129a/b-Verfahren gegen Hüseyin A.

Am 8. Januar (9.00 Uhr, Saal 10, Regierungsstraße 7, Koblenz) beginnt vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts in Koblenz der Prozess gegen den kurdischen Aktivisten

Hüseyin A.

Bereits im August 2020 war Mazhar Turan von diesem Gericht zu einer zweieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt und im Oktober 2020 das §129b-Verfahren gegen Gökmen Çakil eröffnet worden.

Keine individuelle Straftat

Dem 60-Jährigen, der im Mai 2020 festgenommen wurde, wirft die Anklage vor, von Mitte August 2015 bis Ende Juli 2016 als hauptamtlicher Kader unter dem Decknamen „Çolak“ das PKK-Gebiet Mainz mit den Räumen Wiesbaden, Bad Kreuznach und Rüsselsheim verantwortlich geleitet zu haben.

Grundlage der Anklage sind auch in diesem Verfahren die intensive Telekommunikationsüberwachung und Observationen durch das Bundesamt für Verfassungsschutz und „Erkenntnisse“ des Bundeskriminalamtes.

Danach sei Hüseyin A. vornehmlich für das Organisieren von Demonstrationen, Veranstaltungen, Spendenkampagnen, den Verkauf von Eintrittskarten sowie das Verbreiten von „PKK-Publikationen“ verantwortlich gewesen. Eine individuelle Straftat in Deutschland wird ihm nicht zur Last gelegt.

Mit diesen Aktivitäten habe er sich – so die Anklage – an einer ausländischen „terroristischen“ Vereinigung (§§129a/b StGB) beteiligt, „deren Zweck und Tätigkeit darauf gerichtet“ sei, „Straftaten des Mordes oder Totschlags zu begehen“, weil zur Organisationsstruktur der PKK auch „bewaffnete Einheiten“ gehörten, „die ausdrücklich ein Recht auf ‚aktive Verteidigung‘ und Vergeltungsangriffe gegen türkische Sicherheitsbehörden in Anspruch“ nähmen.

Pro und kontra Selbstverteidigungsrecht

Was deutsche Anklagebehörden als „Terrorismus“ einstufen und strafrechtlich verfolgen, hat der Kassationshof in Brüssel in einem Verfahren gegen Dutzende kurdische Politiker und Medienschaffende in ein völlig anderes Licht gestellt. Das Gericht stellte fest, dass es sich nach belgischer Rechtsauffassung bei dem Konflikt zwischen der Türkei und der PKK um einen nichtinternationalen Konflikt mit andauerndem Charakter und hoher Intensität handelt. Aufgrund der weit entwickelten Organisation der PKK sowie der Kämpfer*innen der Guerilla HPG müsse das humanitäre Völkerrecht auf diesen Konflikt angewendet werden. Die Kampfhandlungen der PKK jedenfalls könnten nicht als terroristisch eingestuft werden. Das wäre der Fall, wenn diese nicht in einem Zusammenhang mit dem Konflikt stehen würden, was dann wiederum als Kriegsverbrechen geahndet werden müsse, nicht aber als „terroristisches“ Handeln.
Diese gänzlich andere Sicht auf die kurdische Bewegung macht deutlich, dass auch das Verfahren gegen Hüseyin A. politisch motiviert und von einer verheerenden Opportunitätslogik deutscher Außenpolitik geprägt ist.

Verfolgt in der Türkei – verfolgt in Deutschland

Einschlägige Erfahrungen mit der türkischen und bundesdeutschen Justiz hat Hüseyin A. bereits gemacht. So war er, ursprünglich zum Tode verurteilt, wegen seines politischen Engagements 20 Jahre und 7 Monate in türkischer Haft. Hiervon musste er zwei Jahre bei täglicher Folter, deren Zeitpunkt er selbst hat bestimmen müssen, in einer Dunkelzelle im Gefängnis von Maraş zubringen. Außerdem hatte Hüseyin A. bei brutalen Angriffen faschistischer „Grauer Wölfe“, die mit dem Ruf „Tod den Aleviten“ Ende der 1970er Jahre das Haus seines Onkels stürmten, ihn und vier Familienmitglieder töteten, eine Hand verloren.

Nach seiner Haftentlassung im Februar 2001 ist er wegen erneut drohender Festnahme zu seinen in Deutschland lebenden Geschwistern geflohen.

Doch verhaftet wurde er wieder, diesmal im Juli 2008 in Deutschland. Die Anklage bezichtigte ihn, sich als angeblicher Sektorleiter „Süd“ und Deutschlandverantwortlicher der PKK in einer – damals noch – „kriminellen“ Vereinigung (§ 129 StGB) betätigt zu haben. Ein Jahr später wurde er vom Staatsschutzsenat des OLG Düsseldorf zu einer Haftstrafe von 3 Jahren und 9 Monaten verurteilt, die er bis zum letzten Tag hat verbüßen müssen. Der „Freilassung“ im April 2012 folgte eine dreijährige Führungsaufsicht.

Wer verletzt Gedanken der Völkerverständigung?

Und nun steht er wieder vor Gericht, diesmal als mutmaßliches Mitglied einer „terroristischen“ Vereinigung (§§129a/b StGB). Nicht angeklagt dagegen sind der Staatsterrorismus des türkischen Regimes und die deutschen Rüstungsexporte, die mit dazu beitragen, die Expansionsbestrebungen von Recep T. Erdoğan zu unterstützen. Wenn die Bundesregierung der kurdischen Bewegung vorwirft, dass sich deren Tätigkeit gegen den Gedanken der Völkerverständigung richte, dann sei gefragt, wie Militäraggressionen und Waffenlieferungen zu werten sind, die sich explizit gegen andere Völker und Staaten richten.

AZADÎ e.V., Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland, Köln2

Tel. mobil: 0163 – 0436 269

O4. Januar 2021

 

Weitere Prozesstermine in §§129a/b-Verfahren (JANUAR 2021)

Vor dem 2. Strafsenat (Staatsschutz) des Oberlandesgerichts (OLG) Koblenz begann am 20. Oktober 2020 das Hauptverfahren gegen Gökmen C. (38).

Die Termine: 11., 12., 18., 19., 25. und 26. Januar – jeweils ab 10.00 Uhr,
Saal 10, Regierungsstraße 7
 
Vor dem OLG Stuttgart-Stammheim  wurde am 16. April 2019 das Hauptverfahren gegen die Aktivisten Veysel S. (38), Agit K. (27), Özkan T. (34) , Cihan A. (39) und die Aktivistin  Evrim A. (36) eröffnet. 
 
Die Termine: 7., 8., 21., 28. und 29. Januar – jeweils ab 9.00 Uhr,
Saal 1, Asperger Straße 47, Stuttgart-Stammheim
 
Am 8. Oktober 2020 begann vor dem OLG Stuttgart der Prozess gegen Kamuran Yekta V. (33).
 
Die Termine: 12., 13., 19., 20., 26. und 27. Januar – jeweils ab 9.00 Uhr,
Asperger Str. 47, Stuttgart-Stammheim
 
Vor dem 1. Strafsenat (Staatsschutz) des OLG Koblenz wird am 8. Januar,9.00 Uhr, Saal 10, Regierungsstraße 7, das Hauptverfahren gegen Hüseyin A. (60) eröffnet; Einzelheiten werden zeitnah mitgeteilt.
 
Wir möchten darauf hinweisen, dass Verhandlungstermine jederzeit abgesetzt werden können, insbesondere jetzt, da Verfahrensbeteiligte angesichts der Corona-Pandemie erkranken können oder sich in Quarantäne begeben müssen.

 

 

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          Azadi e.V.:

    Broschüre zu den Urteilen von Brüssel und Luxemburg erschienen

     

 

         Das Urteil siehe hier als PDF

 

 

Unter dem Titel „Die PKK ist keine terroristische Organisation“ ist eine Broschüre erschienen, die vom Rechtshilfefonds AZADÎ e.V. und dem Verein für Demokratie und Internationales Recht e.V. (MAF-DAD) herausgegeben wurde.

In ihr setzen sich verschiedene Autoren schwerpunktmäßig mit dem Urteil des Kassationshofes in Brüssel vom 28. Januar dieses Jahres auseinander, in dem festgestellt wird, dass die PKK nicht als terroristische Organisation, sondern als eine bewaffnete Konfliktpartei gemäß dem internationalen Völkerrecht anzusehen ist. Aber auch die Klageverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zur Streichung der PKK von der EU-Terrorliste werden angesprochen.

In ausgewählten Beiträgen wird der Themenkomplex sowohl aus juristischer, völkerrechtlicher als auch politischer Sicht ausführlich dargestellt.

Rechtsanwalt Jan Fermon aus Brüssel schildert in einem Interview mit dem „Kurdistan-Report“ den jahrelangen intensiven Rechtsstreit, den er als Verteidiger von zahlreichen kurdischen Politiker*innen und Medienschaffenden über Jahre geführt hat und der schließlich in der weitreichenden Entscheidung des Kassationsgerichts mündete.

Professor Dr. Norman Paech und Rechtsanwalt Dr. Lukas Theune gehen in ihren Beiträgen ausführlich auf die völkerrechtlichen Aspekte des Brüsseler Urteils im Vergleich zur Rechtsprechung deutscher Gerichte ein.

In einem Gespräch mit dem „Kurdistan Report“ äußert Rechtsanwalt Mahmut Şakar, Co-Vorsitzender von MAF-DAD, dass er in dem Brüsseler Urteil „eine kleine Revolution in der europäischen Rechtsprechung“ sehe und er den juristischen Kampf als Teil des Widerstands gegen die staatsterroristische Politik des türkischen Staates bewerte.

Die Tageszeitung „junge welt“ führte ein langes Gespräch mit Dr. Rolf Gössner, Rechtsanwalt, Publizist und Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte e.V., über seine Bewertung des Brüsseler Urteils. Hierbei seziert er die Mentalität deutscher Verbotsverfechter*innen, die unter dem Deckmantel einer ausufernden „Antiterror“-Politik dem türkischen Regime in die Hände spielen und auf diese Weise eine Lösung der kurdischen Frage behindern. Für ihn jedenfalls sei diese Frage „weniger denn je ein Terrorproblem, sondern ein politisches, ein menschenrechtliches Problem der Türkei“.

Diese Broschüre soll dazu anregen, über die juristisch-politische Einordnung der kurdischen Befreiungsbewegung zu diskutieren, die in Deutschland nach wie vor als „terroristische“ Organisation geführt wird. Wir wünschen uns, dass der Weg nach 27 Jahren der Kriminalisierung auch hier der Weg frei gemacht werden kann für eine politische Lösung statt Repression und Verboten.

Die (kostenlose) Broschüre kann über AZADÎ bezogen werden: azadi@t-online.de

Azadi e.V.