“ZUSTAND UND GELÄNDE” Kino im Sprengel, Freitag 24.11.2023, 20.00 Uhr

ZUSTAND UND GELÄNDE

Ute Adamczewski, D 2019, 118 Min.

Zu Gast ist die Filmemacherin Ute Adamczewski

Eine Veranstaltung des Kino im Sprengel in Kooperation mit der Roten Hilfe Hannover und der VVN/BdA Hannover

Ausgangspunkt des Films sind sogenannte wilde Konzentrationslager, die unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtergreifung ab März 1933 zur Ausschaltung politischer Gegner eingerichtet wurden und die heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Grundlage der Internierungen war das sogenannte Schutzhaftgesetz, das Gerichtsverfahren erübrigte. Als Lager dienten spontan besetzte Volkshäuser, Arbeitersporthallen, Kasernen Fabrikanlagen und andere Gebäude.

In ruhigen Einstellungen zeigt der Film diese Orte, die Ute Adamczewski in Sachsen, einer ehemaligen »Hochburg der Arbeiterbewegung«, wieder aufgespürt hat. ZUSTAND UND GELÄNDE handelt von den Überschreibungen der Orte durch die Zeit und davon, wie sich unterschiedliche politische Erinnerungskulturen in sie eingeschrieben haben.

Bilder von Straßen, Wohnhäusern, Schlössern und Burgen treffen auf aus dem Off verlesene bürokratische Briefwechsel, Tagebucheinträge, literarische Fragmente. Sie beginnen im Jahr 1933, kreisen thematisch um die Suche nach, später die Organisation von Schutzhaft- und Konzentrationslagern, um die Unterdrückung bzw. den Widerstand der politischen Opposition, um traumatische Erfahrungen. Nach und nach kommen neuere Zeitschichten hinzu – 1945, 1977, 1990, 2011 – und mit ihnen Diskurse der Erinnerungskultur – der Repräsentation dieser Ereignisse, der Etablierung von Denkmälern, der Definition des Begriffs „Opfer des Faschismus“.

ZUSTAND UND GELÄNDE erhielt beim Dokumentarfilmfestival Leipzig 2019 die Goldene Taube und 2021 den Preis der deutschen Filmkritik als bester Dokumentarfilm.

Regisseurin Ute Adamczweski über ihren Film:

Ein Motiv für meinen Film sind die erinnerungspolitischen Auseinandersetzungen in Deutschland seit dem Mauerfall. Exemplarisch lassen sie sich am sächsischen Gedenkstättengesetz von 2004 bis 2015 nachvollziehen. Dessen Gleichsetzung von Nationalsozialismus und DDR führte zu dem Vorwurf, eine Relativierung des NS und damit eine Re-Nationalisierung des Gedenkens zu betreiben. Die frühen Lager, in denen der Widerstand zum NS niedergemacht wurde, sind mir in diesem Kontext begegnet. In den spärlichen Veröffentlichungen dazu gab es keine Fotos. Erst bei den Ortsbesichtigungen wurde mir bewusst, dass sich die meisten Lager inmitten von Ortschaften befanden. Es war offensichtlich, dass man die Orte und die Lager zusammendenken muss. Durch einen Zufall konnte ich während der Dreharbeiten im Stadtarchiv Frankenberg einen Stapel Dokumente einsehen. Ganz oben lag eine Warenbestellung für das Lager Sachsenburg. In dem Stapel befanden sich noch Bewerbungsschreiben, Verhaftungs- und Verhörprotokolle. In jedem einzelnen Dokument konnte man die Verstrickungen des Lagers mit seiner Umgebung und die Beteiligung unzähliger Personen erkennen. Aus den Dokumenten und weiteren Quellen habe ich einen Filmtext entwickelt. Während das Bild in der Gegenwart bleibt, bewegt sich der Text durch die Zeit und zeigt die ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen, die zur Ausgrenzung bestimmter Gruppen und zur Eskalation von Gewalt geführt haben. Der Ausdehnung des NS in alle Lebensbereiche habe ich die vermeintliche Harmlosigkeit der Orte zur Seite gestellt. In den Filmbildern tauchen Mahnmale auf, die den Opfern des NS gewidmet waren. An deren Umwidmungen lassen sich die antagonistischen Positionen zur deutschen Geschichte ablesen.

Links:

https://www.filmdienst.de/film/details/615315/zustand-und-gelande#filmkritik

“… … … Die Arbeiterorganisationen waren im Sachsen der Weimarer Republik besonders stark aufgestellt. Ihre Zerschlagung hatte für das NS-Regime unmittelbar nach der Machtergreifung höchste Priorität. Viele der sozialdemokratischen oder kommunistischen Gemeindehäuser wurden dafür besetzt und zu Konzentrationslagern umfunktioniert. Ihre Lage im Zentrum der Ortschaften sorgte dafür, dass der Terror besonders tief in den sozialen Zusammenhang hineinwirkte. Bei ihrer Recherche stieß Adamczewski selten auf Gedenktafeln an den Häusern, die nach der Lagerauflösung nahtlos wieder in zivile Funktionen übergingen. Während die Anwohner sehr wohl die Geschichte der Gebäude kannten, reagierten Bürgermeister und Stadtarchivare oft ausweichend auf Adamczewskis Anfragen. … … …

Die anhaltende Wirkung der politischen Gewalt zeigt sich nach der Wende in Aufmärschen von Skinheads, über die in einem Zeitzeugnis kurz reflektiert wird. Ein argloser Passant wird an der Straßenbahnhaltestelle von ihnen schwer misshandelt und fast skalpiert, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war. … … …”

https://www.epd-film.de/filmkritiken/zustand-und-gelaende

“… … … Das fortwährende Nebeneinander der Texte und Bilder, die nur in unseren Gedanken eins werden können, trifft einen auf eine besonders eindringliche Weise. Es führt einem vor Augen, was man alles nicht sieht, obwohl es doch da ist. Eine Straße ist niemals nur eine Straße, ein Gebäude nie nur ein Gebäude. Sie haben Geschichten, denen wir nachspüren müssen, wenn sich die Geschichte nicht wiederholen soll.”

https://www.zeit.de/2021/25/zustand-gelaende-nationalsozialismus-dokumentation-faschismus

“… … … Der Dokumentarfilm von Ute Adamczewski führt zurück ins Frühjahr 1933, als die Nazis, die Tinte auf der “Verordnung zum Schutz von Volk und Staat” war noch nicht trocken, 200.000 politische Gegner in sogenannten wilden Lagern inhaftierten, zur Arbeit zwangen, quälten und ermordeten – nicht die Schoah steht hier im Fokus, aber man ahnt, dass es sich um eine Vorstufe des KZ-Systems handelt, das später Deutschland überzog. Viele der improvisierten Lager befanden sich im Freistaat Sachsen, wo einerseits die Arbeiterbewegung gut organisiert, andererseits die NSDAP stark war. Der Begriff “wild” weckt falsche Assoziationen von Gesetzlosigkeit und Heimlichkeit. Tatsächlich sperrte die SA Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter, seltener Zeugen Jehovas und Juden in Sporthallen, Jugendherbergen, Schlössern, Fabriken und Gaststätten ein, unter den Augen der Bevölkerung, in Zusammenarbeit mit Polizei, Kommunalverwaltungen, Gewerbevereinen; es wurden Stellen ausgeschrieben, Waren geordert, Kosten verrechnet. Aus dem Volkshaus Reichenbach, wo man die Gaststube für Vernehmungen hergerichtet hatte, drangen die Schreie der gepeinigten Häftlinge auf den Marktplatz, was eine gewisse Unruhe erzeugte. Für Abhilfe sorgte die NS-Frauenschaft; sie schickte ein “dickes Federkissen, etwa 50 Zentimeter im Quadrat”, in das die Gesichter der Opfer gedrückt wurden. … … …”

https://www.spiegel.de/kultur/kino/dokumentarfilm-zustand-und-gelaende-ueber-deutschlands-wilde-konzentrationslager-nach-1933-a-7ec23c3c-300f-46ec-a542-33b98e5d2058