50 Jahre Radikalenerlass: Entschädigung für alle Betroffenen und Schluss mit Berufsverboten!
News > Bundesvorstand > 27.01.22
Am 28. Januar 2022 jährt sich zum 50. Mal die Verabschiedung des Radikalenerlasses. Unter Vorsitz des sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder (unter ihnen der mörderische NS-Richter Hans Filbinger) einen Beschluss, der die Behörden anwies, den Öffentlichen Dienst von so genannten Verfassungsfeinden zu säubern. Betroffen waren Postbot*innen, Lokführer*innen, Verwaltungsbeamt*innen und viele andere. Millionen geheimdienstlicher Überprüfungen, Zehntausende von Verhören und weit über 1500 vollstreckte Berufsverbote waren die Folge.
Das Material lieferte der von Altnazis aufgebaute Inlandsgeheimdienst mit dem irreführenden Namen „Verfassungsschutz“ (VS). Um die so genannten Regelanfragen zu allen Anwärter*innen zu bewältigen, wurde der VS zu einem gigantischen und nahezu unkontrollierbaren Apparat aufgebläht. Als gesetzliche Grundlage griffen die Regierenden auf die „Gewährbieteklausel“ des deutschen Beamtenrechts zurück, die aus dem nationalsozialistischen „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom Mai 1933 stammt. Ihr zufolge muss den Staatsbediensteten keine ablehnende Haltung gegenüber der Verfassung nachgewiesen werden, sondern es liegt umgekehrt an ihnen, die Zweifel des Dienstherren auszuräumen – ein praktisch unmögliches Unterfangen, das die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung außer Kraft setzt.
Es folgte eine mehr als zehn Jahre andauernde Hexenjagd auf radikale Linke, die bis hinein ins linksliberale und sozialdemokratische Lager Opfer forderte. Rechte waren trotz der offiziellen „antiextremistischen“ Begründung des Radikalenerlasses faktisch nie betroffen. Die politische Kultur der BRD wurde durch das so geschaffene Klima von Einschüchterung und Duckmäusertum nachhaltig geprägt, auch wenn die einschlägigen juristischen Bestimmungen nach 1984 nur vereinzelt angewendet wurden.
Prominente Fälle in den letzten Jahren waren der Realschullehrer Michael Csaszkóczy im Jahr 2004 und der Kommunikationswissenschaftler Kerem Schamberger im Jahr 2016. Beiden wurde unter anderem ihr Engagement für die Rote Hilfe e. V. vorgeworfen. In beiden Fällen konnte das Berufsverbot schließlich durch eine breite Solidaritätskampagne abgewendet werden, im Fall Csaszkóczys allerdings erst nach jahrelangen Prozessen. Die ungezählten Betroffenen der 1970er- und 1980er-Jahre fordern bis heute vergeblich Rehabilitierung und Entschädigung. Stattdessen hat die neue Bundesregierung ausgerechnet zum 50. Jahrestag des Radikalenerlasses angekündigt, wieder verstärkt auf die unheilvolle „Gewährbieteklausel“ zurückgreifen zu wollen, um „Verfassungsfeinde schneller aus dem Öffentlichen Dienst zu entfernen“.
Begründet wird dies wieder einmal mit der Gefahr eines „Extremismus von links und rechts“. Dass ausgerechnet der mit der rechten Szene eng verbundene Inlandsgeheimdienst erneut mit der Beurteilung der vermuteten „Verfassungstreue“ beauftragt wird, lässt schon jetzt erkennen, gegen wen sich die Jagd auf „Verfassungsfeinde“ erneut richten wird.
Hierzu erklärt Anja Sommerfeld, Mitglied im Bundesvorstand der Roten Hilfe e. V.: „Die Rote Hilfe e. V. erteilt zum 50. Jahrestages des Radikalenerlasses erneut allen Bestrebungen, das antidemokratische Repressionsinstrument der Berufsverbote wiederzubeleben, eine klare Absage. Wir fordern die längst überfällige Rehabilitierung und Entschädigung der Betroffenen.Der so genannte Verfassungsschutz muss endlich entmachtet und aufgelöst werden.“
Die Jagd ist nicht vorbei, von Michael Csaszkóczy, ND 21.01.2022,
“Im Januar 1972 – zeitgleich zum »Marsch durch die Institutionen« der Neuen Linken – verabschiedete die Koalition von SPD und FDP den »Radikalenerlass«. Die Berufsverbote, praktisch ausschließlich gegen Linke, hatten verheerende Konsequenzen, die bis heute andauern” ….
“Die Überprüfungen führten bundesweit zu etwa 11 000 Berufsverbotsverfahren, 2200 Disziplinarverfahren, 1256 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Das sind zumindest die Zahlen, die der »Bundesausschuss der Initiativen gegen Berufsverbote« in den Jahren 1972 bis 1984 zusammengetragen hat. Die wirkliche Zahl der Berufsverbotsverfahren gegen Linke dürfte weitaus größer sein – Bund und Länder haben die Zahlen bezeichnenderweise nie erfasst. An den Bundesausschuss, dem im innerlinken Streit DKP-Nähe nachgesagt wurde, der in Wirklichkeit aber Menschen bis weit ins liberale Lager hinein vereinte, wandten sich viele Mitglieder der K-Gruppen oder der Sponti-Szene gar nicht erst. Strittig war vor allem, dass viele radikalere Linke es ablehnten, gegenüber dem Staat, der sie als Verfassungsfeinde verfolgte, Bekenntnisse zum Grundgesetz abzulegen.” …
50 Jahre Le Berufsverbot – Aufruf zur Unterschriftensammlung Rote Hilfe Hannover 3. Februar 2021
– Zur Ausstellung zu Berufsverboten gibt es eine Broschüre
– Eine weitere Seite zum Thema: http://www.gegen-berufsverbote.de/index-vs.php?section=start
– Die Dokumentation der Niedersächsischen Landesbeauftragten für die Aufarbeitung der Schicksale im Zusammenhang mit dem sogenannten Radikalenerlass (LfR) zum Download: Berufsverbote in Niedersachsen 1972 -1990: Eine Dokumentation
– Die Internationale Solidarität im Kampf gegen Berufsverbote: Le Berufsverbot von Silvia Gingold.
Stellungnahme der VDJ zu 50 Jahren “Berufsverbote”
Stellungnahme der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ) vom 27.01.2022
50 Jahre Berufsverbote – Erinnerung, Mahnung, Aufgabe
50 Jahre Berufsverbote in West-Deutschland durch Radikalenerlass – Keine Rehabilitierung der Geschädigten durch das Land Niedersachsen – Stattdessen, trotz anderslautender Beteuerung, Praktizierung der „biologischen Erledigung“
Publiziert am 6. August 2021 von freiheitsfoo